Vom Luxusleben innerhalb der planetaren Grenzen

Gut 500 Menschen können mitten in Zürich so leben, dass ihnen ein Planet genügt. Dies behauptet die Arbeitsgruppe für eine Klimagenossenschaft in der Schweizer Stadt, die mit ihrem Projekt auch das städtische Klimaziel – nämlich Netto Null bis 2040 – erreichen würde. Die Arbeitsgruppe hat konkret ausgerechnet, was das Leben mit einem Planeten konkret in Zürich bedeuten würde. Für CONTRASTE haben wir das Konzept für das Reallabor, das auf dem jetzigen Busparkplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs entstehen könnte, leicht gekürzt.

KLIMAGENOSSENSCHAFT, ZÜRICH
REDAKTION STUTTGART

Um das Klimaziel der Stadt Zürich – nämlich »Netto Null 2040« – zu erreichen, müssen wir einen anderen Lebensstil entwickeln. Dieser sollte auch die indirekten oder sogenannten grauen Emissionen beinhalten. Denn auch die Emissionen, welche durch unseren Konsum außerhalb der Stadt verursacht werden, müssen auf Netto Null reduziert werden.

Wir berufen uns auf die Forschungen des Teams um Johan Rockström (Stockholm Resilience Center, SRC) zu den planetaren Belastungsgrenzen (Planetary Boundaries). Diese Grenzen wurden im Jahr 2019 im Umweltbericht der Stadt Zürich für unsere Stadt umgerechnet. Demnach überschreiten wir also die planetaren Grenzen in fünf Aspekten, besonders krass beim Klimawandel um einen Faktor 8 bis 13 und beim Artensterben etwa um einen Faktor 5 bis 10. Die Situation ist dramatisch – unser Handeln muss radikal sein. Das heißt: Wir brauchen eine global definierte Lebensweise, die ein gutes Leben für alle zehn Milliarden Erdbewohner*innen ermöglicht, natürlich an lokale Gegebenheiten angepasst. Es geht also um Global Climate Justice, angewandt auf Zürich. Es ist die einzige zukunftstaugliche Lebensweise.

Errechnetes Öko-Budget

Die planetaren Belastungsgrenzen definieren ein Öko-Budget. Dem zugrunde liegt ein Basalkonsum von zwei m2 geheiztem Schlafraum, Zugang zu einem Commons-Raum von 50 m2, 1.600 veganen Kalorien, private Beleuchtung und 20 Liter Warm- und Kaltwasser pro Tag. Außerdem 180 Velo-Kilometer pro Jahr und drei kg Verpackungsmaterial sowie alle nötigen öffentlichen Dienste (Sicherheit, Bildung, Gesundheitsversorgung).

Die planetaren Grenzen erlauben – zum Glück – mehr als dieses physiologische Minimum, weiterer Konsum ist durchaus möglich: Gemäß der »Preisliste« in Belastungseinheiten (abgekürzt Eh) können wir unsere Lebensweise individuell zusammenstellen – dabei bleiben wir immer noch innerhalb der planetaren Grenzen.

Es ist also keine Einheitslebensweise nötig, nur das Einhalten eines Budgets von 100 Eh. Technische Fortschritte sind dabei schon mitberücksichtigt. Eine mögliche A-la-carte-Auswahl pro Jahr könnte also zum Beispiel so aussehen:

18 m2 Wohnfläche:16,4 Eh
2.000 km im Zug:5,6 Eh
50 kg vegane Ernährung:4,4 Eh
40 Liter Milch:8,8 Eh
10 kg Fleisch:20,3 Eh
200 Stunden Internet:22,4 Eh
1.000 kWh Strom:3,2 Eh
2.000 Liter Trinkwasser:1,4 Eh
Total:82,5 Eh

In diesem Beispiel könnten weitere 17,5 Eh konsumiert werden. Etwa mit einer Reise von 1.000 km per Schiff oder 500 km mit einem E-Auto oder 6.264 km im Zug. Man kann auch Eh einsparen und im nächsten Jahr 1.400 km fliegen. Wer das Internet nur selten braucht, kann stattdessen 183 km Benzinauto fahren. Wer nur ein 14 m2-Zimmer will, kann neun Liter mehr Milch (bzw. 900 g Käse) konsumieren.

Das sieht zwar asketisch aus. Wenn wir jedoch eine ökologische Genossenschaft mit rund 500 Menschen bilden, dann ergeben sich zusätzliche Spielräume. Wir können unsere kleinen privaten Räume durch gemeinsam nutzbare Räume im Erdgeschoss (Mikrozentrum) ergänzen. Wir können gemeinsam Nahrungsmittel beschaffen (bei/mit einer Solawi) und gemeinsam kochen.

Durch Wirtschaften im Großen und Teilen von Ressourcen erreichen wir mühelos einen Lebensstandard, der einem Vier-Sterne-Hotel gleicht – und das innerhalb der planetaren Grenzen! Wir brauchen unser Ökobudget nicht nur individuell abzurechnen, sondern können es als Durchschnittswert von 500 ganz verschiedenen Individuen benützen – was nochmals mehr Freiheiten zulässt. Wir können beispielsweise ein paar Leihautos und Cargobikes mitnutzen, eine Kleiderbörse einrichten, Geräte und Apparate teilen – Medien sowieso.

Wer in die Klimagenossenschaft einzieht, passt die persönliche Lebensweise an die oben definierten ökologischen Grenzen an – und ist bereit, sich monitoren zu lassen; diese Lebensweise kann das Privatleben erheblich verändern. Die Genossenschafter*innen erhalten neben dem Mietvertrag auch einen Teilzeit-Arbeitsvertrag, der die bezahlten oder unbezahlten Tätigkeiten am Betrieb regelt. Damit die Klimagenossenschaft planbar und nachhaltig funktionieren kann, werden sowohl Miet- als auch Arbeitsverträge mit mehreren Jahren Geltungsdauer abgeschlossen.

Wie sieht der Alltag aus?

In der Klimagenossenschaft kann die Haupterwerbstätigkeit auf etwa die Hälfte reduziert werden. Jedoch wird ein ökologisch bedingter geringerer Fleisch-, Wohnflächen- und Transportverbrauch unser monetäres Restbudget entlasten. Einen Teil der gewonnenen Zeit können wir im Rahmen der Klimagenossenschaft für allerlei unbezahlte, freiwillige und gemäß persönlichen Vorlieben verteilte Tätigkeiten einsetzen: Landarbeit, Küchen- und Serviceeinsätze, Betreuung (Kinder, Alte, Beeinträchtigte), Unterhalt, handwerkliche Arbeiten, Unterhaltung, gegenseitige Dienstleistungen. Diese Tätigkeiten (wir stellen uns drei Stunden pro Woche vor) verbilligen das Leben in der Genossenschaft und schaffen viele Gratisleistungen. Wer heute seine Ferien in Pauschalressorts bucht, kann das gleich zu Hause haben – ein Grund mehr, nicht so viel herumzureisen (oder ähnliche Genossenschaften in aller Welt zu besuchen).

Die Eh-Wohnflächen können unterschiedlich genutzt werden: als 16 m2-Zimmer in einer Siedlungs-internen Pension, als 14 m2-WG-Zimmer, als Paarstudio (40 m2), als Familienwohnung Leerzeichen: (80 m² für vier Personen). Mit geeigneten Jokerzimmern können Wohnflächen an verschiedenste Lebensbedingungen angepasst werden.

Ein geringerer privater Flächenbedarf wird durch großzügige Räume im Erdgeschoss kompensiert, im so genannten Mikrozentrum (insgesamt 2.000 m2 – finanziert durch Betriebskostenbeiträge): Co-Working-Räume, Bar, Salons, Restaurant, Wäscherei, Lebensmitteldepot, Werkstätten, Garderoben usw. Insgesamt hat man also Zugang zu mehr Räumen und mehr Komfort als heute.

Ein Haushaltsbudget für eine Einzelperson könnte etwa so aussehen (in Franken): 485 (Wohnen), 300 (Steuern), 300 (Krankenkasse), 300 (Essen und Trinken), 150 (private Dienste), 430 (ÖV, Taschengeld), zusammen 1.965.

Wobei die Ausgaben pro Person bei Familien, Paarhaushalten oder WG-Strukturen geringer sind. Die Ausgaben für Essen & Trinken, private Dienste usw. können größtenteils im Innern der Genossenschaft als Betriebsbeitrag erbracht werden. Da man ja dort selbst unbezahlte Tätigkeitsstunden beisteuert, verbilligen sie sich entsprechend. Mit dem Betriebsbeitrag werden die Dienstleistungen im Mikrozentrum finanziert.

Das Leben in einer Klimagenossenschaft ermöglicht es also, nicht nur ökologische Grenzwerte einzuhalten, sondern auch die allgemeine Wirtschaftstätigkeit, das heißt das Wachstum einzuschränken, das ja den Klimaschaden verursacht. Und das ohne Wohlstandsverlust.

Wie ist das organisiert?

Die Klimagenossenschaft agiert wie eine normale Genossenschaft, hat aber eine Betriebsleitung sowie soziokratische Strukturen zur Selbstorganisation. Die Einhaltung der planetaren Grenzen ist Aufgabe der Verwaltung bzw. des Vorstandes; hierzu können Fachleute und Kontrollsysteme beigezogen werden.

Solikom: Die Solidaritätskommission unterstützt Genossenschafter*innen mit geringem Einkommen (Mietreduktion), streckt Anteilscheinkapital vor und hilft in Notlagen aller Art. Sie soll dafür sorgen, dass alle Menschen in der Genossenschaft mitmachen können. Sie ersetzt aber keinesfalls die sozialen Dienste der Stadt.

Lokalrat: Die Mitbestimmung der Bewohnenden wird schon dadurch garantiert, dass sie zugleich Genossenschafter*innen sind. Da jedoch auch Nicht-Bewohnende Genossenschafter*innen sein können, ist ein gesonderter Lokalrat nötig, in dem nur die Mieter*innen (auch von eingemieteten Betrieben) und alle auf den Areal Tätigen (also auch Nicht-Genossenschafter*innen) vertreten sind. Der Lokalrat tagt nach Bedarf und kann Anträge an die Generalversammlung, Wünsche an den Vorstand oder Projekteingaben an die Geschäftsleitung machen. Der Lokalrat verfügt über ein Budget und kann damit kleinere Projekte finanzieren.

Geschäftsleitung: Im Unterschied zu anderen Genossenschaften nimmt diese eine wichtigere Position ein. Sie soll jederzeit den Überblick über das ganze Geschehen haben und für das tägliche Geschäft an Ort und Stelle anwesend sein (in Kombination mit einer Rezeption). Die enge Zusammenarbeit mit der Betriebsleitung (wo sie Einsitz hat) und eine klare Abstimmung der Aufgaben sind wichtig für das Funktionieren.

Personal: Die Personalabteilung kümmert sich um das von der Genossenschaft angestellte bezahlte Personal. Sie verwaltet zugleich auch die obligatorische, unbezahlte Arbeit der Genossenschafter*innen und unterhält eine Tätigkeitsplattform für verschiedenste Tätigkeiten (zum Beispiel als Küchenhilfe).

Betriebsleitung: In der Betriebsleitung sind sowohl die Küchenchefin als auch die Einkaufsschefin vertreten. Der Betrieb verfügt über ein Budget, das von der Finanz- und Personalabteilung verwaltet wird. (Wenn wir von 300 pro Person und Monat für Kost usw. ausgehen, dann wird dieses rund 1,8 Millionen CHF betragen.)

Als idealen Standort, um eine Art Musterklimagenossenschaft für den ökologischen Stadtumbau zu realisieren, sehen wir den jetzigen Carparkplatz beim Hauptbahnhof vor. Auf jeden Fall wäre dieses Projekt inspirierender als der ein Hektar große Parkplatz an bester Lage. Und: Jede geeignete Ansammlung von Gebäuden, die der anvisierten Größenordnung entspricht, kann in eine Klimagenossenschaft umgewandelt werden. Somit kann der Stadtumbau an jeder Ecke beginnen.

Infos: www.klimagenossenschaft.ch

Das Konzept der Nachbarschaften für 500 Menschen haben der Zürcher Schriftsteller P.M. sowie weitere Autor*innen in ihrem neuen Buch »Auf den Boden kommen« skizziert (vgl. CON­TRASTE Nr. 453, Juni 2022).

Siehe auch: www.neustart-schweiz.ch

Grafik: P.M./Klimagenossenschaft.ch

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