Kolumne: Long-Covid unter uns?

Ja, es stimmt unbestritten: die Gruppen, Projekte und Betriebe mit solidarischer Grundstruktur haben sich in der allgemein bedrohlich wirkenden Situation durch die Covid-Pandemie bewährt. Viele Mängel, alltägliche Einschränkungen, Erschwernisse und Sorgen konnten durch gemeinsames Handeln und den sozialen Zusammenhalt kompensiert werden. Der Individualisierung und Vereinzelung wurde, durch das Prinzip der selbstorganisierten Gegenseitigkeit, deutlich das Wasser abgegraben.

Es überrascht deshalb um so mehr, dass uns aktuell in nicht wenigen Gemeinschaften nun Auflösungserscheinungen begegnen, die wir nicht länger bagatellisieren können und wollen. Und das, nachdem der vermeintliche Peak der Pandemiefolgen durchaus erfolgreich überstanden wurde. So zeigt sich für uns externe Berater*innen eine Art von Long-Covid in der Selbstverwaltung. Äußerliche Symptome sind in diesem Jahr unter anderem: die Auflösung ganzer Projektgruppen, gemeinsame Treffen dünnen extrem aus, ehemals Aktive ziehen sich zurück, bestehende interne Konflikte erscheinen jetzt unversöhnlich und nicht auflösbar, neue Impulse und Initiativen sind Mangelware. Besonders kulturelle und bewegungsnahe Projekte und Initiativen scheint das zu betreffen. Allerdings auch Kollektivbetriebe (zum Beispiel in der Gastronomie), auch wenn nicht so oft existenziell.

In den Beratungen können wir verschiedene Gründe erkennen, die mehr oder weniger deutlich ihre Wirkung entfalten. Nicht selten begegnen uns in Gruppen jetzt aktuell Konflikte, Widersprüche und sonstige »Schieflagen«, die eine längere Vorgeschichte haben. Also schon weit vor dem Beginn der Pandemie ungelöst bestanden und gewirkt haben. Die reduzierten persönlichen Begegnungsmöglichkeiten haben eine Verständigung über und die Klärung von Gegensätzlichkeiten in keiner Weise befördert – im Gegenteil. Egal, ob Signal, Big Blue Button oder Zoom nun zur Ersatzkommunikation erkoren wurde, für die direkte und persönliche Auseinandersetzung gibt es keinen Ersatz. Besonders in kritischen Phasen einer Gemeinschaft und ihrer Mitglieder.

Die digitalen Möglichkeiten wurden lange und hingebungsvoll genutzt, auch als die Inzidenzen es gar nicht mehr unbedingt forderten. Das ist ja so einfach. Sie wurden leider – neben sinnvollen Absprachen – auch zur Vermeidung drohender unfreundlicher, schwieriger und ratloser Situationen zumindest in Kauf genommen. Das entspricht zusätzlich einer allgemeinen Tendenz für Einzelne zum sozialen Rückzug. Der Rückweg in den »normalen« Selbstverwaltungsalltag, nach Abschwächung der Pandemiegefahren, fällt einigen schwer. Der Abstand ist groß, manchmal zu groß, geworden. Positiv gesehen: Einige unserer Mitstreiter*innen haben ihre Grenzen der Belastbarkeit kennen und achten gelernt.

Und die persönlichen Belastungen sind im Einzelfall real deutlich gestiegen. Der Unterstützungsbedarf im Familien- und Freundeskreis hat Kräfte erfordert, zum Beispiel durch Erkrankungen, den Betreuungsaufwand für Kinder oder einfach den ganz alltäglichen Mehraufwand. Kräfte, die für Initiative und Tatendrang nun fehlen. Die nötigen Kraftanstrengungen zum Überleben haben in Kollektivbetrieben manchmal vergleichbare Folgen.

Energie und Aufmerksamkeit wird auch jetzt vermehrt für den Umgang mit Zukunftsängsten, Lebensverteuerung, gesundheitlicher Bedrohung, finanziellen Sorgen, zunehmender gesellschaftlicher Spaltung dringend gebraucht. Ohne die Militarisierung und die fortschreitende Plünderung unseres Planeten ausdrücklich benennen zu müssen. Bei allem solidarischen Bemühen und gelebter Praxis wissen wir, dass selbst die engagierteste Gruppe viele höchst individuelle Reaktionen auf solche Bedrohungen und Belastungen nicht immer zu kompensieren vermag. Mal abgesehen von den oft polarisierenden Haltungen im Umgang mit Covid, die in Gemeinschaften zunehmend dauerhafte Gräben hinterlassen haben. Und nicht zuletzt die gestiegenen Bedarfe an finanzieller Sicherheit und damit das verstärkte Drängen in eine marktökonomische Richtung.

Es wird uns für lange Zeit viel Geduld abverlangen. Wir werden uns einiges gegenseitig zu verzeihen haben. Wir werden die Begrenztheit unserer Bemühungen mehr spüren und damit leben lernen müssen. Wir werden uns Zeit fürs Kräftesammeln und zur Wiederherstellung aktiver, gemeinsamer Handlungsfähigkeit oder Entschlusskraft zugestehen müssen. Alles keine sensationell neuen Anforderungen, doch nie waren sie in den betroffenen Gruppen wichtiger als heute.


AG Beratung …auf das Kleingedruckte kommt es an

Am Anfang der AGBeratung stand der RGW – der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, eine Berliner Beratungsstelle, die seit 25 Jahren kollektive Projekte aller Art berät. Über die Jahre wurden die Mitglieder des RGW weniger und älter. Das angesammelte Wissen sollte aber nicht verloren gehen und so wurde Nachwuchs gesucht. Das neue Beratungskollektiv entwickelt seine eigene Struktur und Arbeitsweise, kann dabei aber aus dem Erfahrungspool 25-jähriger Beratungsarbeit schöpfen. Diese
Kolumne erzählt Geschichten aus dem Beratungsalltag.

Link: www.agberatung-berlin.org

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