Räume zur Erholung und Reflektion schaffen

Wie können wir gemeinsam am sozial-ökologischen Wandel arbeiten, ohne dabei auf Dauer selbst zu verschleißen? Das Projekt »Zähne putzen« gibt eine mögliche Antwort auf diese Frage – und vermittelt Aktivist*innen an tauschlogikfreie Retreatorte, die häufig von Gemeinschaften zur Verfügung gestellt werden. Eileen ist bei »Zähne putzen« aktiv und beantwortete die Fragen von CONTRASTE-Redakteurin Regine Beyß.

Was genau verbirgt sich hinter dem Projekt »Zähne putzen«? Wie ist das Projekt entstanden?

Die Idee für »Zähne putzen« ist auf dem Symposium »Rebell*innen des Friedens« (Mai 2019, Gemeinschaft Sulzbrunn) entstanden. Dort wurde deutlich, dass sowohl vielfältige Gruppen von Aktivist*innen als auch die Gemeinschafts- und Kommunebewegung an einem sozial-ökologischen Wandel arbeiten. Die einen organisieren widerständige Aktionen, die anderen versuchen, Räume zu schaffen, in denen eine zukunftsfähige Gesellschaft sichtbar werden und wachsen kann. Diese beiden Impulse sind bislang häufig wenig miteinander verknüpft. Unsere Idee ist, dass sie sich vernetzen und gegenseitig unterstützen, um gemeinsam mehr Wirkung zu entfalten. In Sulzbrunn haben viele Aktivist*innen berichtet, dass ihnen nach Aktionen oft Rückzugs- und Erholungsorte fehlen – die brauche es aber, um nachhaltig aktiv sein zu können. Von Menschen aus den Gemeinschaften kam der Impuls, solche Rückzugsräume zur Verfügung zu stellen, um Aktivist*innen eine Auszeit zu ermöglichen.

Wie organisiert ihr euch? Wie können sich Aktivisti an euch wenden?

Wir haben von jedem Retreatort in unserem Netzwerk ausführliche Informationen eingesammelt, inklusive einer Ansprechperson vor Ort. Diese ganzen Daten haben wir geordnet, gesammelt und pflegen sie auf einer verschlüsselten Online-Datenablage. Aktivist*innen können uns per Mail kontaktieren, bei Bedarf verschlüsselt. Wir fragen dann in der Regel die Wünsche und Bedürfnisse der Person ab und suchen anhand dessen einen passenden Platz heraus. Wenn es an diesem Platz ebenfalls passt, in dem angefragten Zeitraum eine oder mehrere Person(en) aufzunehmen, bringen wir beide Parteien direkt in Kontakt. Auch danach stehen wir natürlich weiterhin für Fragen oder bei Problemen zur Verfügung.

Wie viele Gemeinschaften beteiligen sich an dem Projekt? Was können die Gemeinschaften den Aktivisti anbieten?

Aktuell stellen 21 Gemeinschaften aus den Netzwerken GEN-D (Global Ecovillage Network Deutschland) und Kommuja (Netzwerk der politischen Kommunen) über das Zähne putzen-Projekt Rückzugsräume für Aktivist*innen zur Verfügung, außerdem acht weitere Wohnprojekte und fünf Privatpersonen. Neben den Räumen und der Verpflegung, die den Aktivist*innen meist tauschlogikfrei angeboten werden, gibt es an den Plätzen in der Regel auch Austausch und sozialen Anschluss zu Gleichgesinnten. Die Aktivistis können das Gemeinschaftsleben kennenlernen, sich aber auch zurückziehen. Darüber hinaus fragen wir jede Person oder Gruppe in unserem Netzwerk, ob sie die Aktivist*innen auch emotional begleiten könnten. An einigen Orten leben zum Beispiel (Trauma-)Therapeut*innen, Coaches oder Visionssucheleiter*innen, die bereit sind, Menschen bei Bedarf zu unterstützen.

Ihr schreibt, ihr habt ein »weites Verständnis« von Aktivismus. Was meint ihr damit?

Oft denken Menschen beim Wort »Aktivismus« vor allem an Aktivist*innen, die in Besetzungen leben oder irgendetwas blockieren. Wir sehen aber, dass es ebenso die vielen Menschen braucht, die zum Beispiel kochen, Camps aufbauen, Pressearbeit machen, Antirepressions-Unterstützung leisten oder im Hintergrund organisieren, um Blockaden oder Besetzungen zu ermöglichen. Zudem verstehen wir »Zähne putzen« als intersektionales Projekt, das heißt, wir bieten nicht nur Retreatplätze für Aktivist*innen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, die gerade viel mediale Aufmerksamkeit erfahren, sondern laden auch ausdrücklich Menschen ein, die zum Beispiel in der Geflüchtetenhilfe, antifaschistischen oder queerfeministischen Kämpfen aktiv sind.

Seid wann läuft das Projekt und wie viele Aktivisti konntet ihr schon an Gemeinschaften vermitteln?

Nach einer kurzen Findungsphase von drei Monaten konnten wir bereits im August 2019 die ersten Menschen an einen Retreatort vermitteln. Damals waren wir noch mitten im Projektaufbau und unser Netzwerk solidarischer Orte war viel kleiner als heute. Im November 2019 hatte sich unser Angebot bereits soweit herumgesprochen, dass wir seither regelmäßig Anfragen bekommen. Inzwischen haben wir trotz einer coronabedingt längeren Pause im Frühjahr 2020 etwa 75 Menschen im Rahmen von »Zähne putzen« vermittelt. Auch unser Netzwerk ist in dieser Zeit auf über 30 Plätze gewachsen.

Bekommt ihr Rückmeldungen von den Aktivisti? Wenn ja, wie sehen die aus?

Wir bekommen häufig viel Dankbarkeit dafür, dass wir dieses Netzwerk zur Verfügung stellen. Und wir bekommen zurückgemeldet, dass die Aktivisti die Retreatzeit tatsächlich gut nutzen konnten, um sich zu erholen. Manchmal bekommen wir auch das Feedback, dass der Kontakt und die Vermittlung angenehm und unkompliziert laufen.

Allerdings erleben wir leider hin und wieder auch Frust, wenn wir Menschen absagen müssen, deren Anfrage inhaltlich nicht in das Projekt passt.

Wieso sind solche Rückzugsräume so wichtig? Ist der Bedarf größer geworden?

Auch das Wirken für eine gesellschaftliche Veränderung kann im persönlichen Alltag Züge annehmen, die nicht mehr weit weg sind vom üblichen Hamsterrad kapitalistischer Arbeitsverhältnisse. Ob es um den Widerstand gegen einen Braunkohletagebau, eine Massentierhaltungsanlage, diskriminierende Systeme oder die Unterstützung von Geflüchteten geht: Solche Vorhaben können in einem Ausmaß belasten und Energie erfordern, dass es unter Umständen irgendwann auch nur noch ums Durchhalten geht, unter Verlust des Zugangs zu der eigenen Empfindsamkeit und Lebendigkeit. Auch in Projekten für eine bessere Welt können Menschen sich verbrennen, verzweifeln oder depressiv werden. Und auch in Aktivistikreisen fallen dann häufig die, die es nicht mehr schaffen, durch das Raster und aus den sozialen Bezügen. Sie verlieren Freundschaften, weil sie einfach nicht mehr da sind, oder auch weil sie die anderen »im Stich lassen«. Sei es aus eigener Scham, oder weil die, die weiter machen, sich abgrenzen müssen, um weitermachen zu können. Die Aufgabe, unseren Aktivismus zu leben, wirksam zu sein, ohne uns selbst zu verschleißen, ist vielfach noch nicht gut gelöst.

Ein Baustein, um einen nachhaltigen Aktivismus zu ermöglichen will das »Zähne putzen«-Projekt sein. Es will Aktivist*innen Räume zur Verfügung stellen, in denen sie sich zurückziehen und erholen können, in denen Reflektion und Orientierung, auch Bewältigung von Erlebtem möglich ist.

Ob der Bedarf größer geworden ist, finde ich schwer zu sagen, immerhin gibt es uns ja erst seit gut einem Jahr. Der Bedarf ist auf jeden Fall deutlich spürbar da, und es ist gut, dass der jetzt auch gedeckt werden kann.

Ihr arbeitet auch daran, psychologische und juristische Unterstützung anzubieten. Wie gut klappt das bisher?

Psychologische bzw. emotionale und juristische Unterstützung bieten wir nicht unmittelbar selbst an, sondern arbeiten dafür mit anderen Menschen und Organisationen zusammen.

In einigen Gemeinschaften, die Teil unseres Netzwerkes sind, gibt es solidarische Bewohner*innen, die therapeutische Qualifikationen haben, als Coach tätig sind oder ähnliches. Wenn Menschen uns mit einer entsprechenden Anfrage kontaktieren, vermitteln wir sie an einen Platz, wo sie die Möglichkeit haben, sich Unterstützung zu holen. Darüber hinaus arbeiten wir mit den Organisationen »Psychologists for Future« und »Out of Action« zusammen. So können wir Menschen weiter verweisen, die schwere psychische Problemen haben, die in den Gemeinschaften nicht aufgefangen werden können, oder eine länger andauernde Betreuung benötigen, oder die eine emotionale Begleitung suchen, ohne das mit einem Retreat an einem bestimmten Ort zu verbinden.

Bei juristischen Fragen arbeiten wir ebenfalls mit einer entsprechend qualifizierten, solidarischen Person zusammen. Allerdings haben wir auf dieses Angebot (zum Glück) bisher noch nicht zurück greifen müssen.

Ihr habt ein sogenanntes »Off-Wave Get-Together« organisiert. Was können wir uns darunter vorstellen?

Das Off-Wave Get-Together fand zwischen den ersten beiden Aktionswellen von #by2020WeRiseUp statt, eine Zeit also, in der es für viele Aktivist*innen galt, Kraft für das Bevorstehende zu sammeln und sich zu erholen. In der Zeit des Projektaufbaus habe ich mehrere Menschen kennengelernt, die sehr dankbar waren, dass es ein solches Unterstützungsnetzwerk nun endlich gibt, und die zugleich unzählige Ideen hatten, wozu diese Projekt genutzt werden oder welche Aspekte es noch mit abdecken könnte. Deshalb entschieden wir uns, in der Zeit zwischen den beiden Aktionswellen ein größeres Treffen interessierter Menschen aus unterschiedlichsten Gruppen zu organisieren und mit ihnen zusammen zu überlegen, was die politische Bewegung im Hinblick auf nachhaltigen Aktivismus braucht und was davon wir im Rahmen von »Zähne putzen« umsetzen können. Zugleich sollte das Get-Together aber auch ein Raum gelebter Utopie sein und die Möglichkeit zur Erholung bieten.

Könnte das Projekt noch Unterstützung gebrauchen? Wenn ja, in welcher Form?

Wir freuen uns über Spenden, da wir bislang neben unseren ohnehin recht vollen Alltagen und weiteren Projekten nicht nur komplett unentgeltlich viele, viele Arbeitsstunden in »Zähne putzen« gesteckt haben und das auch weiterhin tun, sondern in der Regel auch selbst für anfallende Kosten, wie Fahrt- und Bürokosten und Infomaterial aufkommen. Außerdem würden wir uns sehr über eine solidarische Person freuen, die für uns zuverlässig bei IT-Fragen ansprechbar wäre und zum Beispiel Änderungen auf der Homepage übernimmt, für die in unserem Team aktuell das Fachwissen fehlt.

Link: https://aktivisti-retreat.org
Kontakt: retreat_in_gemeinschaften@riseup.net

Spendenkonto:
GEN Deutschland e.V.
GLS Gemeinschaftsbank eG Bochum
IBAN: DE59 4306 0967 1166 8372 00
BLZ: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: PROJEKT ZÄHNE PUTZEN

Titelbild: Pixabay

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