Aus Venezuela dringen in den letzten Jahren selten positive Nachrichten nach Europa. Doch die Genossenschafter*innen von Cecosesola lassen sich bis heute nicht unterkriegen und bauen in ihrem seit über 50 Jahren währenden kollektiven Prozess weiterhin an jener hierarchiefreien Zukunft, die sie sich wünschen. Nun stehen sie vor einer neuen Herausforderung.
Kathrin Samstag, Georg Rath, Farina Regn für Cecosesola
Der von Hugo Chávez als Nachfolger bestimmte Nicolás Maduro wurde 2013 zum venezolanischen Staatspräsidenten gewählt. 2019 erklärte sich der damalige Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Interimspräsidenten und wurde von den USA, der EU (und zusätzlich einzelnen EU-Staaten) sowie einigen weiteren Ländern als neuer Präsident anerkannt. An der Macht ist er bis heute nicht und »während die Elefanten kämpfen, leidet das Gras«. Die Bevölkerung hat seit Jahren mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zu kämpfen. Es mangelt in fast allen Bereichen: Nahrungsmittel, Gesundheitsversorgung, Ersatzteile, Trinkwasser, Strom und vielem mehr. Rund 3,7 Millionen Menschen verließen Venezuela in den letzten Jahren, da zwischen Korruption, Wirtschaftsembargos, Misswirtschaft und Währungszusammenbruch kein Ausweg in Sicht ist.
Cecosesola hat derweil rund um die Millionenstadt Barquisimeto im zentralwestlichen Bundesstaat Lara ein weit verzweigtes Netz aus Kooperativen geknüpft. 2017 versorgten sie auf eigenen Märkten wöchentlich 100.000 Familien mit Lebensmitteln und weiteren Produkten des täglichen Bedarfs – insgesamt 10.000 Tonnen im Monat. Alleine an Obst und Gemüse wurden 600 Tonnen pro Woche vor allem aus den eigenen Produktionskooperativen verkauft. Im 2008 eröffneten Gesundheitszentrum CICS, das ein kleines Krankenhaus mit vielfältigen Therapieangeboten ist, und bei dezentralen Sprechstunden wurden 220.000 Menschen medizinisch versorgt. Im Sparkassen-, Krankenkassen- und Bestattungskassensystem sind jeweils ebenfalls zehntausende Familien beteiligt.
Jede neue Etappe in der venezolanischen Krise stellt CECOSESOLA vor ungeahnte Herausforderungen und zwingt zur eigenen Neuerfindung. Die mehr als 1.000 gleichberechtigten Genossenschafter*innen, die ihren Lebensunterhalt in den diversen Strukturen des Netzwerks erwirtschaften, diskutieren alle größeren Probleme auf den verschiedenen regelmäßigen Plena und finden gemeinsam eine für sie in der jeweiligen Situation passende Lösung: Särge werden wegen des Metallmangels nun aus Holz gefertigt, die endlosen Warteschlangen vor den Märkten werden inzwischen per Chipkarte und zufälliger Vergabe von Wartenummern organisiert, der Saatguteinkauf wurde zwischen allen landwirtschaftlichen Produktionskooperativen kollektiv organisiert, Besitzer*innen privater Autos, die zur kollektiven Nutzung zur Verfügung gestellt werden, profitieren von kollektiver Ersatzteilbesorgung.
Völkerrechtswidrige Sanktionen
Seit einigen Monaten zeichnet sich nun eine nächste Herausforderung ab: In Venezuela, dem Land mit den größten Erdölvorkommen weltweit, wird der Treibstoff knapp. Die eigene Produktion ist unter Misswirtschaft und Ersatzteilmangel zusammengebrochen. Bis Anfang November 2020 hatten die USA trotz Wirtschaftssanktionen noch toleriert, dass die venezolanische Regierung mit multinationalen Unternehmen Rohöl gegen Diesel tauscht. Wenige Tage vor den US-Präsidentschaftswahlen verbot die Trump-Administration diese Versorgungsmöglichkeit. Die Lage im Land spitzt sich täglich zu. Transporte von Personen und Waren sowie Notstromversorgung sind zunehmend unmöglich. Die Sanktionen treffen eindeutig die gesamte Bevölkerung und müssten als völkerrechtswidrig eingestuft und sofort beendet werden.
Noch ist allerdings kein Ende des Embargos in Sicht und auch bei Cecosesola herrscht große Sorge. Ohne Diesel können die landwirtschaftlichen Produkte nicht mit LKW vom Land in die Stadt gebracht werden. Es besteht die Gefahr, dass die kommenden Ernten auf den Feldern vergammeln. Die meisten Produktionsstandorte sind viele Stunden Fahrt von Barquisimeto entfernt, was alternative Transportmöglichkeiten erschwert. Und selbst wenn Obst und Gemüse die Stadt erreichen, funktionieren ohne (Not-)Strom weder Licht noch Kassen und Computer – von medizinischen Geräten ganz zu schweigen. Trotz dieser sehr angespannten Lage bleiben die Compañer@s einem ihrer Grundprinzipien treu: keine Zeit und Energie auf politische Machtspiele zu verwenden; sich gar nicht erst abzugeben mit jenen Kräften, die Sanktionen verhängen oder Gesellschaft von oben gestalten wollen. Lieber bauen sie von unten weiter an Strukturen, die die Grundfesten des Kapitalismus ins Wanken bringen und bei denen nicht Wachstum und Gewinne, sondern die Menschen und ihre Grundbedürfnisse im Zentrum stehen. Ihre Organisierung ohne Chefinnen und Chefs legt die Verantwortung fürs Ergebnis in die Hände aller. Viel Vertrauen sowie kreative und praktische Fähigkeiten sind so über die Jahre gewachsen. Für manche war das doch nicht der passende »Job« und sie haben Cecosesola wieder verlassen. Jene, die über die Jahre und Jahrzehnte geblieben sind, gestalten tagtäglich einen beeindruckenden Prozess persönlicher, kollektiver und gesellschaftlicher Transformation.
Stand Juni 2021 müssen schon sehr große Anstrengungen unternommen werden, um eine sich an Prioritäten orientierende Teilversorgung sicherzustellen. Dazu haben die Compañer@s Kontakt mit amtlichen Stellen in verschiedenen Nachbarbundesstaaten aufgenommen, welche die Verteilung des knappen Kraftstoffes regulieren. Bislang kann auf diese Weise zumindest die Hälfte der wöchentlich benötigten Dieselmenge aufgetrieben werden.
Räder gelten als Spielzeug
Um der Treibstoffknappheit zu begegnen, geht Cecosesola zusätzlich nun einen eigenen und vor Ort sehr ungewöhnlichen Weg. Die Genossenschafter*innen setzen auf die vermehrte Nutzung von Fahrrädern. In einem Land, in dem die Tankfüllung fürs Auto lange Zeit weniger als eine Flasche Wasser kostete, fuhren Erwachsene im Alltag nicht Fahrrad. Räder gelten in Venezuela als Kinderspielzeug oder Sportgeräte. In Barquisimeto setzte bereits vor eineinhalb Jahren ein Umdenken ein. Nach dem Besuch zweier Genossenschafter*innen bei kollektiven Projekten in Deutschland, bei denen eigentlich alternative Gesundheits- und Bildungsstrukturen im Fokus waren, erwiesen sich die Straßen als die inspirierendsten Orte. Einerseits begeisterte damals im Sommer 2019 die »Fridays for future«-Bewegung, doch auch im Alltag waren die Compañer@s von all den jungen und alten Menschen fasziniert, die überall mit Rädern unterwegs waren. Zunächst schien das Fahrrad eine gute Alternative zum Auto zu sein, für das chronisch kaum mehr Ersatzteile in Venezuela zu bekommen sind, und nebenbei konnte etwas für den Klimaschutz getan werden.
Gleich nach der Rückkehr nach Venezuela wurden erste Fahrradkurse organisiert und Räder repariert. Bei den Märkten entstanden Fahrradparkplätze und durch gemeinsame Radausflüge wurden mehr und mehr neue Radfahrer*innen gewonnen. So gibt es mittlerweile jeden letzten Sonntag im Monat eine Fahrradtour quer durch Barquisimeto. Anfangs, vor 19 Monaten, waren es acht, jetzt ist die Gruppe bereits auf rund 70 Compañer@s angewachsen. Auch in von Corona geprägten Zeiten haben die Genossenschafter*innen von Cecosesola dies ohne Unterbrechung weitergeführt. Sie nennen das heute: »Eine Radtour für das Gute Leben«. Es sind also Ausflüge, an denen die gesamte Familie teilhaben kann und bei denen sich alle am Tempo der Kinder als Maßstab orientieren.
Am Ende jeden Ausflugs gibt es Obst und Wasser als Erfrischung. Meist ist der Zielpunkt einer der öffentlichen Plätze der Stadt, den die Teilnehmenden dann mit Besen und Rechen etwas sauberer machen. Den Schlusspunkt bilden kooperative Spiele für die ganze Familie. Außerdem werden seit April Aufnäher auf den Sicherheitswesten angebracht, auf denen geeignete Radfahrwege für die Stadt Barquisimeto gefordert werden, die es aktuell dort überhaupt nicht gibt.
Um die Drahtesel auch instand zu halten, werfen alle Beteiligten monatlich einen kleinen Beitrag in eine kollektive Kasse. In der Kooperative El Triunfo, die selbst auch einen der kleineren Wochenmärkte organisiert und Teil des Cecosesola-Netzwerks ist, wurden vor vier Wochen 30 Fahrräder gekauft, welche nun den Compañer@s dort zur Verfügung gestellt werden, um von ihren Wohnungen zum Wochenmarkt und wieder zurück zu kommen.
Dies hat dazu geführt, dass wöchentlich 120 Liter Diesel weniger benötigt werden. So schaffen es die Cooperativistas, eines der angemieteten Fahrzeuge für den Personentransport einzusparen. Die freiwerdenden 120 Liter Diesel werden dann dem Gesamtvolumen an Treibstoff zugeführt. Das ist zwar keine allumfassende Lösung, aber es kommt durch solche Initiativen zu Synergie-Effekten, die auch in anderen Prozessen von Cecosesola motivierend wirken.
Keine Energie in Lobbyismus
Da auch in der aktuell sich zuspitzenden Lage keine Energie in Lobbyismus gegen die Sanktionen gesteckt werden soll, ist der weitere Ausbau der Fahrradflotte die beste Lösung, um länger mobil zu bleiben. Radelnd wird nun jeder Tropfen Treibstoff für wichtige Transporte gespart. Nebenbei zeichnen sich viele andere Vorteile dieser Lösung aus der Not heraus ab: Menschen riskieren weniger Ansteckung mit Covid-19 als bei gemeinsamen Fahrten; generell ist die sportliche Fortbewegungsart gut für Kreislauf und Gesundheit; außerdem wird Zeit gespart, weil weniger Autos stunden- und tagelang vor Tankstellen warten müssen und Autoreparaturen sowie die Beschaffung von Ersatzteilen teilweise entfallen können. Wie lange die Notlösung herhalten muss und ob damit tatsächlich alle wichtigen Transporte der nächsten Wochen und vielleicht sogar Monate bewältigt werden können, ist derzeit nicht absehbar. Es bleibt zu hoffen, dass die Gestaltungskraft und Ausdauer bei Cecosesola groß genug sind, um auch diese Krise zu überstehen.
Online findet sich ein untertitelter Kurzfilm, der die Geschichte und das Wirken von Cecosesola zusammenfasst. Link: https://cecosesola.org/acerca-de
Weitere Beispiele für ihre Selbstorganisation zeigen die Genossenschafter*innne in ihrem Film »Reinventándonos« auf Youtube.
Alle Fotos: Cecosesola