»Nehmen wir das Leben wieder selber in die Hand!«

Das Netzwerk living utopia versucht mit dem Leine-Kollektiv dauerhaft utopische Mitmachräume aufzubauen. Entstanden ist dabei das Funkenhaus als utopisch-alternative Struktur in einem strukturschwachen Dorf zwischen Göttingen und Hannover. Dort ist das neuste Projekt die Verwandlung einer Metzgerei in eine Tofurei, mit Bäckerei, Mitmach-Café und unverpackt- Sortiment als Leine-Laden.

Tobi Rosswog, living utopia

Natürlich soll das Ganze solidarisch und unkommerziell funktionieren. Es ist ein großartiges Experiment, auch Produktion nach Bedürfnissen und Fähigkeiten zu organisieren. Geben und Nehmen soll voneinander entkoppelt werden, das Prinzip von Leistung und Gegenleistung überwunden und weitere Wege in eine alternative Ökonomie gegangen werden.

»Nehmen wir das Leben wieder selber in die Hand!« lautet der Slogan des Leine-Kollektivs. Wir möchten proaktiv die Gesellschaft verändern, kooperative Strukturen aufbauen und Alternativen erfahrbar machen, unsere Unterschiedlichkeit als Bereicherung wertschätzen und begreifen.

Dazu stellen wir ganz unterschiedliche Projekte, Kampagnen und Aktionen auf die Beine, unter anderem Foodsharing oder auch den »Klimaplan von unten – gerechte 1komma5«. Die Projekte sind größtenteils tauschlogikfrei, solidarisch, ökologisch, vegan und drogenfrei und haben den Anspruch einer emanzipatorischen Praxis. Dabei reflektieren wir unsere Widersprüche sowie Sachzwänge und leiten daraus unterschiedliche Konsequenzen ab, sodass es beispielsweise auch »freegane« Räume gibt, d.h. es gibt auch nicht-vegane Lebensmittel, wenn diese aus dem Müll gerettet wurden.

Das Leine-Kollektiv begreift sich als Lernraum, in welchem wir Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Heteronormativität sowie jeglicher anderen Form von Diskriminierung keine Bühne bieten wollen und lernen möchten, diese nicht zu reproduzieren. Wir distanzieren uns von verkürzter Kapitalismuskritik, die oft in verschwörungsideologischen oder pseudowissenschaftlichen Ansichten mündet. Dabei sind wir uns unserer eigenen Verwobenheit bewusst und möchten uns gegenseitig kritisch beim Lernprozess begleiten. Wir setzen uns für ein solidarisches, nachhaltiges, herrschafts- und hierarchiefreies Miteinander ein.

Das Funkenhaus ist Teil des Leine-Kollektivs. Es ist ein selbstorganisierter und offener Raum, der mit all den Strukturen drumherum von allen gemeinsam gestaltet wird und von verschiedenen Gruppen für Seminare, Planungstreffen und Aktionswerkstätten genutzt werden kann. Es ist ein minimalistischer, alternativer, selbstgemachter Ort. Wir versuchen diesen Ort an der Idee der Suffizienz zu gestalten und fragen uns immer wieder: Was brauchen wir eigentlich wirklich?

Neue Mitmachtofurei

Die Mitmachtofurei wird ab nächstem Jahr in den Räumen einer alten Metzgerei starten. An fünf Tagen im Monat werden wir Tofu, Tempeh, Sojamilch und Sojajoghurt aus regionalen Bio-Sojabohnen für einen Umkreis von 100 km für konkrete Bedürfnisse und damit nicht für den anonymen Markt produzieren. Die restliche Zeit ist die Mitmachtofurei für alle offen, um beispielsweise Widerstandstofu für Aktionen zivilen Ungehorsams oder andere Polit-Camps herzustellen.

Außerdem entsteht in der alten Metzgerei noch der Leine-Laden. Das ist ein interaktiver Treffpunkt und Lernort für alle und lädt ein zum Mitmachen und Erleben. Unter anderem können Menschen dort im Mitmach-Café bei Kaffee, Tee, Kuchen Leute treffen, Veranstaltungen besuchen oder im Team mitwirken und eine schöne Zeit verbringen, ob vor oder hinter der Theke.

Richtiges Leben im Falschen

Doch Halt: Natürlich hören wir direkt wieder die größte Kritik von jeglichem Ansatz anderer Selbstverständlichkeit. Am liebsten wird dabei mit Adorno argumentiert: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Adorno meinte keinesfalls, dass es völlig egal sei, wie wir unser Leben gestalten sollten, selbst wenn wir eben noch »im falschen Leben« stecken. Sein Ausspruch ist kein Plädoyer fürs Nichtstun und Resignieren. Die Frage ist vielmehr, ob es nicht möglich sein könnte, Alternativen des richtigen Lebens zu erproben und zu initiieren.

Genau das passiert in unseren Ansätzen. Adorno schreibt, wir sollten leben, »wie man dem eigenen Erfahrungsbereich nach sich vorstellen könnte, dass das Leben von befreiten, friedlichen und miteinander solidarischen Menschen beschaffen sein müsste«. Natürlich weiß er dabei um die Bedeutung einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung: »Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft.« Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz schreibt dazu: »Damit schließt er nicht aus, dass Fenster in eine andere Welt innerhalb des kapitalistischen Systems im Hier und Jetzt geöffnet werden können.«

So ein Fenster als Utopie zu öffnen, erscheint aus unserer heutigen Perspektive kaum möglich. Und doch lohnt es sich, den Horizont ein wenig zu erweitern und erste Gedanken zu wagen. Der Philosoph Ernst Bloch prägte den Ausdruck »konkrete Utopie«. Wir können sie selbst (mit-)formen.

Die starr vorgegebenen Denkmuster von »Arbeit«, »Eigentum« und »Geld- und Tauschlogik« können wir Schritt für Schritt durchbrechen, sie neu denken und anders leben. Natürlich existiert das große Spielfeld des Kapitalismus weiter, doch wir können versuchen, so gut wie möglich anders zu spielen – Spielregeln zu brechen, neu aufzustellen und vermehrt zu kooperieren, statt gegeneinander zu zocken. Auch wenn wir nicht alles direkt als emanzipatorisch und unmittelbar revolutionär benennen und erkennen können, gibt es zahlreiche Feedbackeffekte, die wir heute noch nicht absehen können. Es geht darum, sich jenseits von Staat und Markt gemeinsam zu organisieren. Dabei versuchen wir mit unseren Projekten Keimzellen oder auch mit Friederike Habermann gesprochen »Halbinseln gegen den Strom« zu gestalten. Denn: »Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon im Entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich sie atmen hören« (Arundhati Roy).

Link: https://gelebteutopie.de/

Foto: Leine Kollektiv

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