Nachbarschaftshilfen als genossenschaftlicher Verbund?

Lösungen des Pflegenotstands werden in der BRD seit den 1960er-Jahren regelmäßig angemahnt. Es wird ein vielfältiges Bündel an Gründen genannt: der demographische Wandel, schlechte Arbeitsbedingungen im Pflegebereich, unterdurchschnittliche Gehälter, der Einfluss von Zeitarbeitsfirmen, der Trend zur stationären Pflege und dass mehr und mehr Angehörige ihre Pflegetätigkeit einstellen. Im Schwerpunkt der diesmaligen CONTRASTE geht es um die kollektive, gemeinschaftlich organisierte Nachbarschaftshilfe – oft als Seniorengenossenschaften bezeichnet. Sie können als ein wichtiger Baustein zur Abfederung des Pflegenotstands gesehen werden.

Burghard Flieger, Redaktion Genossenschaften

Nachbarschaftshilfe ist eine »eigentlich« wenig formalisierte Form sozialer Gemeinschaften zur Bewältigung von individuellen oder gemeinschaftlichen Bedürfnissen, Notlagen und Krisen. »Eigentlich« wird hier betont, da Anforderungen und Umsetzungen und damit Formalisierung, wenn sie in irgendeiner Weise vergütet werden, zunehmend in die »Fänge der Bürokratiemonster« geraten. Dennoch gehören genossenschaftlich organisierte Nachbarschaftshilfen zum bunten Mosaik der Abmilderung des Pflegenotstands. Sie erleichtern Fachkräften durch die Übernahme pflegeergänzender Aufgaben, durch Solidarität und durch preisgünstige Leistungen, ihrer Kerntätigkeit nachzugehen.

Im Mittelpunkt des Schwerpunkts stehen genossenschaftliche Beispiele aus Baden-Württemberg wie die Bürgergenossenschaft Neuweiler, die SAGES eG in Freiburg sowie die BürgerSozialGenossenschaft Biberach und die Bürger für Bürger eG in Niedereschach. Alle verfolgen das Anliegen, den Menschen zu helfen, möglichst lange in ihren eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben. In ihren Ausprägungen unterscheiden sie sich dennoch erheblich, indem sie beispielsweise Tagespflege, Digitalisierung, Rund um die Uhr-Versorgung oder Aufbau von Wohnprojekten in das umgesetzte Konzept integrieren.

Eingerahmt sind die Einzeldarstellungen in eine wissenschaftliche Verortung von Mitarbeitern des »Seminar für Genossenschaftswesen der Universität zu Köln«. Diese sehen in dem genossenschaftlichen Selbsthilfeansatz eine Gestaltung »von unten«, die aus den spontanen Kräften der Gesellschaft heraus erfolgt. Dies wird veranschaulicht durch Nils Adolph, der in seiner Untersuchung zu Strukturen und Arbeitsweisen von zehn Nachbarschaftshilfen in Freiburg drei Typen unterscheidet: informelle und formalisierte sowie kommerzialisierte Nachbarschaftshilfen. In letzteren werden, wie bei allen beschriebenen Genossenschaften, die ehrenamtlich geleisteten Dienste professionell vermittelt und mit Krankenkassen abgerechnet. Deren Aufwand, Reichweite, aber auch Stabilität gewinnt dadurch erheblich.

Am Ende des Schwerpunkts geht es um verschiedene Unterstützungsstrukturen für Nachbarschaftshilfen, zum Beispiel Fördermittel zur Beratung und Weiterentwicklung, wie sie in Baden-Württemberg über die Allianz für Beteiligung e.V. vergleichsweise unbürokratisch zur Verfügung stehen. Dagegen geht es beim Netzwerk Nachbarschaftshilfe vor allem um die Organisation hilfreicher und teilweise notwendiger Qualifizierungen. Beim Ausblick wird der Aufbau einer regionalen Sekundärgenossenschaft als »Vision« für eine Bedeutungserweiterung der genossenschaftlichen Nachbarschaftshilfen zu einem vierten Standbein der Altersvorsorge skizziert – eine Idee, die bisher noch weit über den jetzigen Entwicklungsstand der Nachbarschaftshilfen hinausweist.

Titelbild: In der Form eines Pixi-Heftes stellt die Genossenschaft SAGES das Thema Helfende und Hilfenehmende dar. Bilder aus dem Heft illustrieren unseren Schwerpunkt. Zeichnung: SAGES eG


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