Mehr Demokratie in Genossenschaften wagen

Die Bundesregierung hat 2023 die Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen verabschiedet. Im Vorfeld fand eine Anhörung unterschiedlichster Akteure aus dem Genossenschaftssektor statt. Auf die Frage, was das Besondere der Genossenschaft sei, war die einhellige Antwort: Sie ist eine demokratische Unternehmensform. Doch spiegelt diese Einschätzung die Wirklichkeit wider?

Burghard Flieger, Redaktion Genossenschaft

Im Jahr 1973 gab es eine Novellierung des Genossenschaftsrechts. Seitdem ist vorgeschrieben, dass der Vorstand die Genossenschaft unter eigener Verantwortung zu leiten hat. Die bis dahin bestehende Verpflichtung des Vorstandes, Weisungen der Generalversammlung oder Maßgaben der Satzung im Bereich der Geschäftsführung auszuführen, wurde aufgehoben. Immer wieder argumentieren Prüfungsverbände auf Grundlage dieser »Neuregelung« gegen Satzungsregelungen, die mehr Beteiligung der Mitglieder in einer Genossenschaft ermöglichen sollen. Tatsächlich wertet einer der bekanntesten und angesehensten Genossenschaftsjuristen, Volker Beuthien, diese Änderung als im Kern undemokratisch. In der Praxis ist der Umgang mit diesen gesetzlichen Beschränkungen mittlerweile sehr vielfältig:

Zahlreiche Genossenschaftsneugründungen weichen in andere Rechtskonstrukte aus, zum Beispiel das Mietshäusersyndikat, bei denen zwei Vereine als Gesellschafter einer GmbH eine Selbstverwaltung für Hausprojekte ermöglichen. Zunehmend wird Ähnliches im Wohnsektor durch sogenannte Dachgenossenschaften nachgebildet, indem Hausprojekte unter dem Dach einer eG neue Formen der Selbstorganisation organisieren können. Analoge Umsetzungen zeichnen sich aktuell bei Energiegenossenschaften ab. Neue Genossenschaften experimentieren zudem im wachsenden Maße mit dem Konzept der Soziokratie. Sie praktizieren so in ihren gemeinschaftsgetragenen Organisationen eine sehr weitgehende Entscheidungsbeteiligung der Mitglieder.

Unser Schwerpunkt thematisiert zwei dieser Demokratisierungskonzepte: den der Soziokratie und den der Energiegemeinschaften unter dem Dach von Energiegenossenschaften. Davor erläutert Mathias Fiedler die Änderungen des Genossenschaftsgesetzes und seine Hintergründe.

Das Wort Soziokratie setzt sich aus »Socius« und »kratein« zusammen. »Socius« (lat.) steht für »Gefährten«, oder »die, die miteinander arbeiten«. »Kratein« (griech.) steht für »regieren«: Die, die miteinander arbeiten, bekommen die Entscheidungskompetenz für ihre Belange. Der Begriff Soziokratie drückt also aus, dass Entscheidungen von denen getroffen werden, die davon betroffen sind. Anliegen ist eine demokratische Entscheidungsfindung basierend auf Werten der Gleichwertigkeit aller Beteiligten. Nach den Ergebnissen des Forschungsprojekts »GenSo – Genossenschaft und Soziokratie« wird anhand der Beispiele Öko.See.Dorf am Bodensee und der Solawi KoLa Leipzig über erste Erfahrungen in Genossenschaften mit Soziokratie berichtet.

Dachgenossenschaften für gemeinschaftliche Wohnprojekte sind mittlerweile weit verbreitet. In diesen werden »teilautonomen« Hausprojekten unterschiedliche Ausprägungen der Selbstorganisation ermöglicht. Zurzeit greifen mehrere Energiegenossenschaften diese Grundidee auf. Die Konzeption der Solar-Bürger-Genossenschaft eG in Freiburg und der Energiegemeinschaft BEST veranschaulichen die ersten Schritte für die Umsetzung.

Titelbild: Diese Illustration ist assoziativ entstanden zum Thema »Gemeinschaftliche Betriebsplanung«. Illustration: Hanno Böhle


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