Leistung

Immer noch beeindruckt mich an der Corona-Krise, dass zwei alte liberale Fundamental-Phrasen von der offiziellen Politik praktisch nicht bemüht wurden: »Leistung muss sich lohnen!« und »Der Schornstein muss rauchen!«

Dass sich die Politik ununterbrochen um die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu kümmern habe, und der Markt die gesellschaftlichen Themen und Ziele vorgibt, war lange selbstverständlich – bis neulich: als eine Pandemie den Staat veranlasste, brutal in die Sphäre der Ökonomie einzugreifen.

Und ebenso sensationell kam plötzlich die Leistungsideologie unter den Hammer. Nach dem Ende des Systems der personalen hierarchischen Herrschaft des Mittelalters wurden die Gesellschaftsmitglieder zu Subjekten, die alle auf eigene Rechnung zu handeln gezwungen waren. Die eigene Lebensqualität hing nicht mehr von der Willkür und Gunst der Herrschenden und Traditionen ab, sondern vom Erfolg der einzelnen Subjekte in der Konkurrenz. Ideologisch drückte sich das als Leistungsprinzip aus: Die Gesellschaft belohnt und sanktioniert ihre Mitglieder nach deren individueller Leistung. Und mit dem Geld gibt es auch den einfachen quantitativen Maßstab dafür: Das Einkommen (in Geldform) entspricht eben der individuell erbrachten Leistung. In der Corona-Krise war das auf einmal anders: Die Debatten gingen fast ausschließlich um die Gefährdung von Menschen und nicht um ihre Leistung. Dabei wäre das Gegenteil so leicht gewesen – trifft doch das Virus vorrangig diejenigen, die am wenigsten aktive Leistungen für das System erbringen: Alte und Kranke. Und so hätte es nahe gelegen, die neoliberale Grundstimmung noch weiter anzuheizen: Jede*r soll sich um sich selber kümmern! Der Staat muss sich auf die Leistungsträger*innen konzentrieren. Wer sich nicht genügend selber schützen kann, hat es im wahrsten Sinne des Wortes nicht besser verdient.

Stattdessen reagierten sogar viele »Leistungsträger*innen« mit Verständnis und zum Teil ostentativer Zustimmung auf die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Gefährdeten. Ein historischer Verdienst des Virus? Zeigte sich doch in der Pandemie, dass sich Politik unter kapitalistischen Bedingungen durchaus für Solidarität und Menschenfreundlichkeit entscheiden kann und Menschen bereit sind, auch harte staatliche Einschränkungen »für den guten Zweck« zu akzeptieren. Und mit dem seit der Bankenkrise geläufigen Begriff der »Systemrelevanz« bekommt der individuelle Leistungsbegriff sogar einen gesellschaftlichen Bezug: Der Fokus wandert vom isolierten Subjekt und seiner privaten Performance zur Frage des gesellschaftlichen Nutzens. Da hat die Pandemie (zumindest zeitweise) tatsächlich eine andere Hierarchie geschaffen und das Problem der Leistung neu definiert: Besonders das Krankenhauspersonal, aber auch alle anderen, die das tägliche Leben zuverlässig aufrechterhalten (und typischerweise schlecht bezahlt werden), gerieten ins Licht der Öffentlichkeit und wurden teilweise als Held*innen geehrt. Allerdings: Zum Beispiel die Stundenlöhne der Mitarbeiter*innen in unserem Impfzentrum rücken diesen Impuls wieder etwas zurecht: Ärzte bekommen dort 150 Euro pro Stunde, »sonstige Kräfte« nur 15 Euro.

Uli Frank

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