Komplizenschaft an einer patriarchalen Gesellschaft aufgeben

Bezeichnend dafür, wie unbekannt das Terrain der kritischen Männlichkeit in der breiten Öffentlichkeit noch ist, ist die Tatsache, dass der deutsche Wikipedia-Artikel zum Thema »kritische Männlichkeit« zu Beginn meiner Recherche noch überhaupt nicht existiert hat. Nimmt man das Erscheinen des Artikels als Indiz ernst, sieht es so aus als könne Mann sich zukünftig wirklich (!) nicht mehr darum drücken, zum eigenen Mann-Sein Stellung zu beziehen. Kritische Männlichkeit ist gerade dabei, über die linke Nische hinaus, auch vom Mainstream aufgegriffen zu werden. Doch es reicht nicht aus, voller Schuldgefühle für die eigene Männlichkeit einzugestehen, dass Mann ein emotional verarmter Mensch ist.

Johannes Jung, Berlin

Kritische Männlichkeit ist bisher weder durch die vergleichsweise junge Männerforschung ausreichend theoretisch fundiert, noch ist sie gesellschaftlich erprobt genug, als dass Mann schon wüsste, wie kritische Männlichkeit eigentlich zu praktizieren ist.

Die kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit und männlichen Rollenbildern verdankt sich dabei nahezu gänzlich dem Feminismus. Als Aneignung feministischer Perspektiven auf die eigene Geschlechtlichkeit geht es um den Versuch, Männlichkeit nicht als natürliche und abstrakte Selbstidentifikation stehen zu lassen, sondern ihre konkreten Manifestationen in den Blick zu nehmen und kritisierbar zu machen. Reagiere ich zum Beispiel auf emotionale Verletzungen mit Wut und Aggression? Versuche ich also mit aller Macht den Fakt meiner Verletzlichkeit aus meinem Selbstbild zu tilgen? Baue ich als Mann für emotionale Unterstützung lieber auf Frauen aus meinem Umfeld als auf meine männlichen Freunde, weil letztere in derlei Angelegenheit mit ähnlicher Inkompetenz glänzen wie ich selbst? Bin ich vielleicht nur fähig, emotionale Unterstützung in Anspruch zu nehmen, aber nicht in der Lage sie meinem Gegenüber anzubieten? Habe ich zu allem eine Meinung, noch ehe ich weiß, worum es genau geht? Diese und viele andere alltägliche, kleinere und größere Sexismen gilt es durch eine Reflexion von Männlichkeit aufzudecken und zu kritisieren.

Es gibt aber strukturelle Gründe dafür, dass die Kritik männlicher Verhaltensmuster oft ins Leere läuft.

Eine Einsicht kritischer Männlichkeit ist, dass die männliche Perspektive viel eindimensionaler ist, als Mann es sich vorstellen kann. Das Patriarchat ist so tief in männliche Selbstbilder und Rollenerwartungen eingeschrieben, dass ohne eine feministische Außenperspektive gar nicht erkennbar ist, was eigentlich das Problem an ihnen ist. Erst diese Außenperspektive macht aus der gefühlten Normalität von Männlichkeit eine kritisierbare Andersartigkeit.

Aber so wie der Veganismus einer »woken« Minderheit den Klimawandel nicht stoppen wird, kann der Konsum feministischer Filme und Literatur das Patriarchat in den Köpfen nicht abschaffen. Dass FLINTA*-Perspektiven in der Kulturindustrie verwertbarer werden, gibt unterdrückten Teilen der Gesellschaft dringend notwendigen Raum und gesellschaftliche Anerkennung. Der Konsum dieser Produkte macht aber noch kein antisexistisches Engagement. Daher ist die feministische Forderung an Männer, ihre Männlichkeit zu reflektieren noch so aktuell wie vor 50 Jahren.

Es sind nicht nur die Anderen

Ein Problem besteht darin, dass die kritikwürdigen Männer aus männlicher Sicht immer nur die ominösen Anderen sind. Oft stellt die Kritik extremer, patriarchaler Machtausübung und sexueller Übergriffe damit die männliche Selbstkritik still. Wer als cis-Mann aber denkt, dass man für nachhaltige Veränderung zuerst bei den ganz bösen Kerlen anfangen muss, steckt noch in der Art von Effizienzdenken fest, das persönliche Verantwortungsübernahme verhindert und patriarchale Strukturen reproduziert. Die Abarbeitung an den Harvey Weinsteins und Kevin Spaceys dient dann hauptsächlich der Stabilisierung subtilerer Sexismen. In dieser Denke gilt: So lange ich nicht sexuell übergriffig bin, bin ich kein Sexist und damit auch trotz meiner Männlichkeit kein Problem für meine Mitmenschen. Die Versicherung, besser zu sein als die anderen, ist Balsam für die Seele des in permanenter Konkurrenz verkeilten männlichen Subjekts. Dass »besser« nicht das gleiche ist wie »gut«, weiß Mann intuitiv, wenn es um die Beurteilung anderer geht. Für sich selbst nimmt Mann aber gern in Anspruch, schon ein »guter« Mann zu sein, weil man »besser« ist als andere.

Aber auch gut gemeinte Selbstkritik ist nicht grundsätzlich schon ein Schritt nach vorn. Es reicht nicht aus, die eigene männliche Unzulänglichkeit von FLINTA*-Personen vorgeworfen zu bekommen, mantraartig zu wiederholen und dann reumütig und voller Schuldgefühle für die eigene Männlichkeit, einzugestehen, dass Mann ein emotional verarmter Mensch ist. Diese »wokeness« ist hauptsächlich Hilflosigkeit, der Abhilfe geschaffen werden muss, da sie sonst zu bloßem Selbstmitleid verkommt.

Zur angemessenen Selbstkritik finden

Kritische Männlichkeit darf sich nicht in selbstmitleidigen Eingeständnissen der Mitschuld am Patriarchat, dem Abarbeiten an prominenten Sexualverbrechern oder der feministischen Movie-Night erschöpfen.

Der Anspruch ist immerhin nicht weniger, als aus Männern »gute Menschen« werden zu lassen – um ihrer selbst willen und vor allem zum Wohle aller anderen. Die eigentliche Arbeit kritischer Männlichkeit findet daher an uns statt.

Dazu braucht es nicht nur eine Außenperspektive auf Männer in abstracto, sondern auch und vor allem eine Außenperspektive von jedem konkreten Mann auf und zu sich selbst.

Der dazu notwendige, distanzierte Blick auf sich selbst ist eine recht voraussetzungsvolle Angelegenheit – für Männer noch viel mehr als für Frauen. Denn Frauen sind im Patriarchat dazu angehalten, von außen auf sich und ihr Verhalten zu blicken. Bei Männern hingegen kommt ein solcher Perspektivenwechsel viel zu oft einem zerstörerischen Identitätsverlust gleich. Männer sind, was sie selbst in sich sehen, Frauen sind, was andere in ihnen sehen – so ließe sich diese patriarchale Struktur des geschlechtlichen Selbstbezugs polemisch vereinfachen.

Mann muss diese Perspektive auf sich erlernen und erproben – es ist ein bei Zeiten emotional aufreibender Prozess und verändert das eigene Selbstbild. Aber wer heute noch glaubt, seine Männlichkeit mit seinen emanzipativen Ansprüchen versöhnt zu haben, ist entweder zu großem Selbstbetrug fähig oder mit Ignoranz gesegnet. Wenn die Verpflichtung zur Anteilnahme an emanzipatorischer Praxis kein bloßes Lippenbekenntnis sein soll, muss Mann erkennen was es an ihm selbst ist, dass ihn – ob er will oder nicht – mindestens zum Komplizen einer patriarchalen Gesellschaft macht. Die Fähigkeiten, Kritik an sich heranzulassen und obendrein Selbstkritik zu üben, sind dabei unverzichtbar.

Zuerst muss Mann verstehen, dass Selbstkritik etwas ganz anderes ist, als die Kritik anderer zu akzeptieren. Sich Kritik von außen zu Herzen zu nehmen und in ihr den wahren Kern zu ergründen, ist ein Gebot des Anstandes – und hat noch nichts mit kritischer Männlichkeit oder Selbstkritik zu tun. Doch selbst einfache Kritikfähigkeit – der adäquate Umgang mit Kritik von außen – ist eine Kompetenz, die den meisten Männern fehlt. Das ist aber kein bloßer Mangel, sondern selbst schon Resultat männlicher Verhaltensmuster.

Das männliche Beharren auf sachlicher Kritik zum Beispiel ist oft ein kaum überwindbares Bollwerk gegen gerechtfertigte Kritik an der Person. Kritik, die sich aus guten Gründen explizit gegen die Person und vielleicht sogar gegen ihre Sexismen richtet, wird damit unterbunden. In aufopferndem Stoizismus streitet Mann für die Sache; Persönliches hat in der Kritik nichts verloren. Deswegen kann Mann es nur als argumentatives Foul-Spiel werten, wenn die Kritik sich gegen ihn als Person oder sogar gegen ihn als Mann richtet. Die Konsequenz: Mann ist beleidigt, wird wütend und geht zum verbalen Angriff über. Dass Mann selbst die »Sache« ist, um die es geht, bleibt Männern oft unverständlich. Der Grund ist das männliche Privileg, die eigenen Unzulänglichkeiten stets in die Forderung nach Anpassung der Umwelt ummünzen zu können, statt die Kritik an sich heranzulassen – this is a man‘s world.

Fehlverhalten anerkennen

Und jetzt fängt die Sache an wirklich kompliziert zu werden: Denn Selbstkritik ist mehr und anderes als bloße Kritikfähigkeit. Um Selbstkritik zu üben, muss Kritik nicht nur an sich herangelassen werden. Sie muss im ersten Schritt überhaupt erst gedacht und formuliert werden, im zweiten Schritt gegen uns selbst in Stellung gebracht werden und erst im dritten Schritt kann sie dann von uns als Kritik an uns angenommen werden, um positiv auf unser zukünftiges Verhalten wirken.

Deswegen sind Männer oft unfähig, die eigenen Handlungen selbstständig als (sexuell) übergriffig zu bewerten. Jeder kennt das Gefühl der Scham und die Widerstände, die es in einem auslöst, wenn wir durch Kritik in unserem Selbstbild getroffen sind. Warum sollte irgendjemand ohne Druck von außen diese Scham als Waffe gegen sich selbst in Stellung bringen? Ohne den Widerstand von FLINTA*-Personen und Androhung von Sanktionen, ist es als Mann zu einfach diese Scham zu vermeiden, indem der Fehler zu einem gemacht wird, den »ganz sachlich gesehen« die anderen begangen haben. Die Argumentation, Frauen würden sexuell belästigt, weil sie zu kurze Röcke trügen, ist dabei nur einer der widerlicheren Auswüchse dieser männlichen Projektion, und taucht in milderen Formen bei jedem Mann auf. Die Problemverschiebung weg vom eigenen Verhalten, hin zu einer pseudo-objektiven Kritik einer ihnen nicht gemäßen Umwelt ist tief ins männliche Rollenverhalten eingeschrieben.

So aussichtslos die Durchführung kritischer Männlichkeit in Anbetracht all dessen auch scheint, ist sie kein Ding der Unmöglichkeit. Im Gegenteil: Mann sollte vorsichtig sein, diese anzuerkennenden Hürden nicht zu Ausreden zu machen. Sind sie einmal erkannt, gilt es Mittel und Wege zu entwickeln, sie zu überwinden. Während es also strukturelle Gründe dafür gibt, dass die feministische Forderung »Reflektier deine Männlichkeit!« ins Leere läuft, gibt es eine unerkundete Pluralität an Möglichkeiten, die jedem Mann offenstehen, um einen anderen Bezug zu sich und seiner Umwelt zu entwickeln. Diese Pluralität zu entdecken und zu erproben, ist die positive Wendung im Umgang mit den Schwierigkeiten, denen Mann sich für einen kritischen Selbstbezug stellen muss.

Weiterführende Links:

https://kritische-maennlichkeit.de/

https://kimposster.blackblogs.org/

https://kritmaen.noblogs.org/blog/

https://www.akweb.de/ausgaben/662/linke-manner-immer-noch-uberfordert-bei-sexueller-gewal/

https://christophmay.eu/

Podcast:

https://spoti.fi/31uzyoe

Titelbild: Das Institut für Kritische Männerforschung bietet Seminare zu Männerbünden, Männerfantasien und Kritischer Männlichkeit an. Grafik: Institut für Kritische Männerforschung, Stephanie May, Christoph May