Graswurzel-Geschichte(n)

NS-Geschichte(n) von unten bilden den Schwerpunkt dieser CONTRASTE-Ausgabe – einerseits begriffen als Geschichte lange vergessener Menschen, die unter dem mörderischen Nazi-Regime 1939 bis 1945 gelitten oder gestritten haben, aber auch als Geschichtsschreibung »von unten« jenseits offizieller Historie und Gedenkorte durch Lai*en, Initiativen und Künstler*innen. CONTRASTE erinnert damit auch an die Reichspogromnacht am 9. November 1938, die sich 2020 zum 82. Mal jährt.

Ariane Dettloff, Redaktion Köln

Der Verunglimpfung allen Gedenkens an die Verbrechen der Nationalsozialist*innen durch den AfD-Chef Alexander Gauland als »Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte« setzen wir damit ein vielfaches antifaschistisches Ausrufezeichen entgegen. Heute können wir das risikofrei tun, während Antifaschist*innen unter dem Nazi-Regime verfolgt wurden bis hin zur Ermordung. Da sie sich mutig gegen eine angepasste Mehrheit verhielten, waren sie auch noch lange nach dem Ende der Hitler-Diktatur verfemt oder vergessen. Ihr zivilcouragiertes Verhalten wurde weitgehend beschwiegen, geschweige denn anerkannt. So ging es unter anderen auch den »Edelweißpiraten« – unangepassten Jugendlichen, die sich während der Nazi-Herrschaft weigerten, sich dem vom totalitären Regime verordneten Denken und Verhalten in Stechschrittanordnung unterzuordnen. Anders als ihre Altersgenoss*innen in der Hitlerjugend zogen sie »ihr Ding« durch – wanderten, musizierten und sangen »gefährliche Lieder«. Sie konnten Hannah Arendts Erkenntnis aus dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 nicht kennen, doch haben sie sich intuitiv entsprechend ihrer berühmten Devise verhalten: »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.«

Noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Edelweißpiraten als »Kleinkriminelle« verleumdet. Lange wurde ihnen in der Bundesrepublik die Anerkennung als Widerständler*innen vorenthalten, ebenso wie Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und »Wehrkraftzersetzern«. Ihr Beharren auf Selbstbestimmung gegen das von der Führung verordnete »völkische Denken« als Widerstand zu würdigen, unternahmen Graswurzel-Historiker*innen in Geschichtswerkstätten, Autor*innen-Kollektive und engagierte Einzelpersonen erst seit den 80er Jahren überall in der Republik. 18 Geschichtswerkstätten in Deutschland listet Wikipedia im Mai 2020 auf.

Den lange vergessenen oder absichtlich verschwiegenen Frauenwiderstand thematisieren zwei Schwerpunktartikel. Aus Köln, Wien und Hannover erreichten uns Beiträge der »Oral History« (dtsch. »mündliche Geschichte«). Neben dem Gedenken an jüdische Opfer des Nazi-Regimes werden Verbrechen an Zwangsarbeiter*innen und an Homosexuellen fokussiert.

»Nie wieder!« kann gar nicht oft genug wiederholt werden, meint das CONTRASTE-Team anlässlich des Schreckens, der uns erfasst, wenn wir Dokumente lesen wie die Anordnung des Chefs der NS-Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich vom 10. November 1938 am Vorabend des Pogroms, in der es heißt: »Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (zum Beispiel Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist) … In Geschäftsstraßen ist besonders darauf zu achten, dass nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.« Und heute müssen jüdische Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland nach den Anschlägen vor der Synagoge in Halle 2019 und 2020 in Hamburg wieder antisemitischen Terror fürchten – eine alarmierende Entwicklung, gegen die wir uns zur Wehr setzen müssen.

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Titelbild: Lange verkannt, jetzt mit einem Mural geehrt: Edelweißpiraten-Wandbild von »Captain Borderline« in Köln, Foto: Herbert Sauerwein

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