Erinnern? Stören! – Erinnern stören!

1989 stand die Welt aus Ost und West Kopf. Mit dem vorläufigen Aus für den real existierenden Sozialismus zerbrachen ideologische Fixpunkte. Für (westdeutsche) Linke standen damals neue Großmachts-Dystopien und »Nie wieder Deutschland« als Angstkulisse und radikale Antwort nebeneinander. Als Schlaglichter auf 1989 sind diese Erinnerungen an die sogenannte »Wiedervereinigung« aber lange nicht vollständig. Das Buch »Erinnern Stören« füllt diese Lücke – das war längst überfällig.

Bernd Hüttner, Redaktion Bremen

Als vor mehr als 30 Jahren die Mauer zwischen BRD und DDR fällt, bedeutet das auch eine gewaltige Zäsur für migrantisches und jüdisches Leben in Ost und West. Zu diesem Zeitpunkt leben allein in West-Berlin circa 130.000 Türk*innen, in der DDR knapp 100.000 »ausländische Beschäftigte«, die meist im Rahmen von Arbeitsabkommen im Land sind. Vor 1989 waren 30.000 Menschen in Deutschland (Ost und West) jüdischen Glaubens. Ihre weitaus größte Zahl lebte »im Westen«.

Angeregt durch eine neue, junge Generation von Aktivist*innen und Autor*innen wird heute zusehends gefragt, wer damals eigentlich vereinigt wurde. Wer hat damals warum was gefeiert? Wer wurde ausgeschlossen? Ein erster Eindruck: Migrant*innen, People of Color und Jüd*innen haben in der Geschichte der sogenannten »Wiedervereinigung« keinen Platz (S. 315).

Das vorliegende Buch enthält neben einem Intro und einem Nachwort der Herausgeber*innen 18 Beiträge von Autor*innen aus den Generationen der 30- bis 60-Jährigen. Unter den Texten sind damit neben den Berichten und Erinnerungen von Beteiligten auch Einschätzungen von »Nachgeborenen«, die die Zeit vor 1989 nur aus Erzählungen, der Literatur und aus den Medien kennen und darum etwa die unterschiedlichen Erinnerungsperspektiven auf »die Wende« in den Blick nehmen.

Dabei machen alle Texte auf sehr ähnliche Erfahrungsstrukturen aufmerksam: Sie erzählen von ausgegrenzten, wenn nicht unterdrückten Perspektiven auf die deutsch-deutsche Vereinigung. Denn sie erinnern auf radikale Weise zum Beispiel an die Kämpfe um Teilhabe in den 1980er Jahren, schildern einschneidende Erlebnisse um die »Wende«-Jahre, beschreiben die Erfahrungen der Selbstbehauptung gegen den Rassismus der 1990er Jahre. In den Texten werden an den Rand gedrängte Stimmen sichtbar und ein »anderes Erinnern« entsteht. Sie zeigen die Kontinuität migrantischer Organisierung (zumindest im Westen) ebenso wie die von Rassismus und antisemitischer Bedrohung.

Vieles, was in »Erinnern stören« geschildert wird, nimmt Bezug auf sehr persönliche Erlebnisse, wie die eines 1976 geborenen Sinto über sein Aufwachsen in der DDR, oder die eines 1982 geborenen Rom aus dem (ehemaligen) Jugoslawien, der jahrelang mit seiner Familie in verschiedenen Lagern leben muss. Eine türkische Kommunistin erzählt, wie sie von der Partei 1985 in die DDR geschickt wird, dort studiert und nach der »Wende« dort bleibt.

So bringt der Band beeindruckende Geschichten zusammen: von Bürgerrechts- und Asylkämpfen ehemaliger Gastarbeiter*innen, von Geflüchteten in BRD und DDR. Beiträge über den Eigensinn von Vertragsarbeiter*innen, von damaligen internationalen Studierenden, über jüdisches Leben in Ost und West. Vieles ist Berlin-zentriert, aber auch andere Orte kommen vor. In Merseburg (heute Sachsen-Anhalt) werden im August 1979 die kubanischen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret ermordet, die Täter*innenschaft ist bis heute unaufgeklärt. Seit einigen Jahren untersucht und skandalisiert die »Initiative 12. August« den Fall – und berichtet darüber in ihrem Beitrag.

Ceren Türkmen informiert über einen Brand 1984 in Duisburg, bei dem sieben Menschen getötet wurden: Döndü Satır (40 Jahre), Zeliha (18 Jahre), Rasim (15 Jahre) und Tarık Turhan (50 Tage), Songül (vier Jahre), Ümit (fünf Jahre) und Çidem Satır (sieben Jahre). Erst zehn Jahre später wird das Feuer, das im Treppenhaus des Wohnhauses begann, als Brandstiftung identifiziert – obwohl es in den Jahren zuvor immer Hinweise dafür gegeben hatte, dass der Brand vorsätzlich aus rassistischen Motiven gelegt worden war.

»Erinnern stören« ist ein umfangreiches, inhaltsvolles und wichtiges, nicht zuletzt längst überfälliges Buch. Es ist auch ein Buch über antirassistische Allianzen – und ihre Schwierigkeiten. Wer sich in Zukunft über deutsche Zeitgeschichte, die Geschichte antirassistischer Kämpfe und ein linkes, zeitgenössisches jüdisches Selbstverständnis austauschen will, sollte es gelesen haben.

Ergänzend und vertiefend sei noch auf die Zeitschrift JALTA hingewiesen, die, so der Untertitel »Positionen zur jüdischen Gegenwart« veröffentlicht. Sie erscheint seit 2017 und verfolgt ähnlich wie »Erinnern stören« kritische, feministische und queere Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart. JALTA will »mehrheitsgesellschaftliche Deutungsmuster in Frage« stellen und »die Diversität der Post-Migrationsgesellschaft« widerspiegeln. Sie ist auch für (radikale) Linke sehr lesenswert.


Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.): »Erinnern stören«. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive; Verbrecher Verlag, Berlin Oktober 2020, 540 Seiten, 20 Euro

JALTA, Neofelis Verlag, Berlin, 16 Euro, bisher sieben Ausgaben, Link: https://bit.ly/3jY72Uz

Unter https://bit.ly/2LRuMNt können die Beiträge des Buches einzeln heruntergeladen werden.

Das Webprojekt »Erinnern stören« (https://bit.ly/3tYQxMB) stellt Filmbeiträge, Interviews sowie den Film »Duvarlar – Mauern – Walls« (Can Candan, 2000) zur Verfügung.

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