Care-Arbeit für die eigene Bildung übernehmen

Seit ein paar Jahren existiert die Initiative »Selbstbestimmt Studieren«, die versucht, andere Wege in der Bildung zu bestreiten. Sie bieten einen B.A.-Studiengang unter dem Titel »Philosophie und Gesellschaftsgestaltung« an. CONTRASTE-Autor Maurice Schuhmann hat mit zwei Mitgliedern der Initiative gesprochen – wir drucken eine gekürzte Version des Gesprächs ab.

CONTRASTE: Hallo, schön dass es klappt. Könnt ihr euch bitte kurz vorstellen?

Charlotte: Meine Name ist Charlotte von B. Ich bin aktiv bei Fridays for Future in Stuttgart und bin seit 2019 in der Studienganginitiative aktiv.

Nisha: Ich bin Nisha T.-T. Ich bin seit 2018 dabei, das heißt kurz nach der allerersten Idee der Studienganginitiative. Seit einer Weile bin ich stärker in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv, aber immer noch beim Projekt dabei.

CONTRASTE: Vielleicht erzählt ihr mal kurz, was euer konkretes Projekt ist und welche Ziele ihr dabei habt.

Nisha: Ich habe mit anderen jungen Menschen 2017 ein Bildungsprojekt gemacht, bei dem wir uns vor allem über Schule unterhalten haben – unter dem Aspekt, wie man dies anders gestalten kann. Dabei haben wir uns schon sehr stark in das Thema Bildung vertieft. Wir waren fast alle nicht mehr in der Schule und es ging Richtung Uni. Aber auch an der Uni sieht es nicht wirklich gut aus, in Bezug darauf, selbstbestimmt zu studieren oder Fähigkeiten mitzubekommen, um das Morgen zu gestalten. Deshalb haben wir dann überlegt, ein Projekt zu initiieren, dass auf zwei Weisen besonders ist. Einerseits soll es von der Form her selbstbestimmter – im Sinne des Komparativs – sein, d.h. wir wollen mitbestimmen, welche Inhalte und Formate es gibt, damit die Bildung auch etwas mit mir persönlich zu tun hat und es ein Raum ist, den ich elementar mitgestalte. Anderseits aber auch Gesellschaftsgestaltung, das heißt Fähigkeiten und Inhalte, die mich als Person in die Lage versetzen, in der Welt transformativ zu wirken.

Charlotte: Durch diese Entstehungsbedingungen war es von Anfang an zwingend, dass wir unsere Bildung selbst organisiert haben. Man kann sagen, dass wir die Care-Arbeit für unsere Bildung übernommen haben. Spannend ist, dass wir auf dem Weg gemerkt haben, dass wir ganz viele unterschiedliche Bereiche aus dem Kontext Bildung kennenlernen, die organisiert werden müssen, die vorher so im Hintergrund waren. Wenn man so an der Uni studiert, glaube ich, wissen viele Studierende gar nicht, was da alles so hinter steckt. Es ist auch spannend zu sehen, wie komplex und starr diese Hochschulsysteme sind.

CONTRASTE: Mir kommen gleich zwei Aspekte bei dem, was ihr sagt, in den Sinn. In meiner Generation war es immer ein klares Ziel zu sagen, dass es bei der Universität – im Gegensatz zur Fachhochschule – nicht um »Ausbildung« sondern um »Bildung des Menschen« geht. Ihr nennt euren Studiengang »Gesellschaftsgestaltung« und habt damit einen konkreten Ausbildungscharakter mit drin, der dem klassischen Konzept der Universität widerspricht. Bösartig gesagt, klingt es für mich nach einer Kaderschmiede, auf der Berufsrevolutionäre ausgebildet werden. Andererseits beruft ihr euch auf eurer Homepage explizit auf Wilhelm von Humboldt, dessen Bildungsideal dem ja diametral entgegen steht. Weiterhin wollt ihr mit Akteur*innen der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und mit Stiftungen. Auch das scheint sich mit dem Bezug auf Humboldt zu beißen. Dieser hatte die Autonomie und Unabhängigkeit der Bildung eingefordert. Durch die Zusammenarbeit begebt ihr euch aber in eine gewisse Abhängigkeit.

Charlotte: Ich würde gerne zum ersten Punkt etwas sagen – zur »Kaderschmiede«. Wir legen den Fokus eher darauf, zum Handeln zu ermutigen. Es geht nicht darum, den perfekten Weg zur Utopie, zur perfekten Gesellschaft zu vermitteln. Es gibt nicht den einen Weg, sondern es gibt sehr viele. In unserer Initiative sind sehr viele unterschiedliche Sichtweisen auf die Gesellschaft vorhanden. Es gibt viele Diskussionen bei uns. Wir sind nicht alle aus demselben politischen Lager.

Nisha: Den Link zwischen Universität und Fachhochschule finde ich sehr spannend. Ich sehe gerade im Rahmen der Bologna-Reform, dass die Universität immer stärker zu einem Ausbildungsort wird – auch in Bezug auf die Spezialisierung der Studiengänge. Wir versuchen dem auch ein Stück weit entgegen zu wirken. Das ist gerade ein Spannungsverhältnis in unserem Studiengang – einerseits die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und andererseits das Konzept der Gesellschaftsveränderung. Es ist auch die Frage: Wie kann ich als schaffender, freier Mensch mich in einer Welt einbringen, die mir auch diese Möglichkeiten bietet? Die Notwendigkeit dessen schlägt uns in einer Welt der multiplen Krisen überall entgegen. Vielleicht muss ein modernes Konzept vom freien Menschen daher auch sein, diesen Aspekt mitzudenken. Es geht wahrscheinlich nicht mehr, nur noch auf den freien Menschen an sich zu fokussieren.

[…]

CONTRASTE: Für mich wirkte euer Konzept auf den ersten Blick ein bisschen wie ein Sturm im Wasserglas. Einerseits wollt ihr das System verändern, aber gleichzeitig wollt ihr von jenem System anerkannt werden, das ihr verändern wollt. Für meine Studiengeneration wirkt es so, als ob der Protest immer harmloser wird. Es ist nicht sehr radikal, wenn man systemimmanente Forderungen stellt und vom System weiterhin anerkannt werden möchte.

Charlotte: Ich sehe die Ambivalenz auch. Ich halte es aber auch für unheimlich privilegiert zu sagen: »So wir machen jetzt unser eigenes Projekt und studieren Philosophie völlig frei von Institutionen auf der freien Wiese«, weil es erstens sehr viel Mut erfordert, aus dem System herauszutreten und es meistens weiße, privilegierte Menschen sind, die es meinen sich leisten zu können. Zweitens ist es auch eine finanzielle Frage und ein finanzielles Privileg, selbstbestimmt zu studieren, weswegen wir gerade in Verhandlungen mit den Hochschulen sind, um die Barrieren etwas zu senken und einen Zwischenraum zu bilden, zwischen dem, was heute als Hochschulsystem anerkannt ist und dem, was wir uns von morgen wünschen. Ich denke, dass es auch wichtig ist, dass es Brücken in der Bildung zu neuen Projekten gibt und es nicht völlig abgekoppelt vom Bestehenden ist. Und gleichzeitig ist auch immer zu fragen, wie wir in den Verhandlungen und der Zusammenarbeit mit den Institutionen einen Punkt finden, der als Umschlagspunkt dient, als Zwischenraum, in dem wirklich radikale Veränderung in einem Netzwerk stattfindet.

[…]

CONTRASTE: Ihr habt bereits die Privilegierung angesprochen. Ich merke immer wieder, dass die Selbstverwaltung und -organisation etwas sehr Privilegiertes ist, mit dem wir sehr hohe Hürden aufbauen. Die Frage ist generell zum Beispiel: »Wie viele Studierende können sich aktiv in selbstverwaltete Strukturen einbringen?« Wer nebenbei arbeiten muss, um seinen/ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, wer sich um Kinder oder ältere, kranke Angehörige kümmern muss, hat sicherlich nicht unbedingt die Zeit, sich zusätzlich in selbstverwaltete Strukturen einzubringen. Inwieweit haben Menschen in solchen Situationen die Möglichkeit, sich in euren Strukturen gleichberechtigt einzubringen? Ist es nicht sehr elitär gedacht? […] Es gibt auch eine Reihe anderer alternativer Studiengänge und auch Hochschulen wie z.B. die filmArche. Inwieweit kooperiert ihr mit diesen und wie grenzt ihr euch davon ab? Oder erfindet ihr das Rad nur wieder neu?

Charlotte: Wir profitieren natürlich von den vorherigen Generationen – zum Beispiel in der Übernahme des Konzepts der Soziokratie und auch unsere Bildungsideale sind nicht neu. Sie gehen zum Teil auf Humboldt zurück.

Ich fand den Punkt – Selbstverwaltung und Privilegien – spannend. Wir diskutieren dies viel in unserem Projekt. Wie gehen wir damit um, dass die einen mehr machen als die anderen. Wie verhält es sich mit der Entscheidungsfindung, damit auch die, die es umsetzen, damit zufrieden sind. Momentan machen wir es so, dass nicht alle im gleichen Maße mitorganisieren, weil wir auch in unterschiedlichen Lebenslagen sind. Es gibt einen Kreis von Menschen, die das Projekt am Laufen halten, die sich jede Woche treffen und am Rande Leute, die partiell dazu beitragen. Es ist auch kein Zwang, dass man sich beim Studiengang in die Selbstverwaltung miteinbringt. Bei der Mitgestaltung versuchen wir aber so niedrigschwellig wie möglich zu sein – zum Beispiel bei der Mitgestaltung von Inhalten.

Nisha: Ich wollte noch etwas zu den Kooperationen sagen. In die Uniwelt sind wir ganz gut vernetzt – meist zu eher alternativen Projekten. Es gibt auch Kontakte zu Initiativen wie der Wanderuniversität oder dem einjährigen Projekt Peace. Wir könnten uns aber noch mehr mit alternativen Bildungsprojekten verbinden. Es ist häufig schwieriger, diese zu finden als klassische Universitätsstrukturen.

[…]

CONTRASTE: Ihr wollt die Selbstverwaltung in einem Studienfach wie Philosophie umsetzen. Ist es nicht aber auch privilegiert bzw. ist es überhaupt übertragbar auf andere Fächer? Es ist vielleicht nicht unbedingt relevant, ob man Platon oder Aristoteles gelesen hat oder nicht. Das verändert nicht viel. In anderen Bereichen – z.B. in den Naturwissenschaften – gibt es natürlich gewisse Grundlagen, die man braucht und auf denen sich Sachen aufbauen. Ist euer Konzept daher nur für ein »Laberfach« wie Philosophie geeignet oder kann man es auch auf andere Bereich übertragen – oder ist es nur für Orchideenfächer machbar, denen die Gesellschaft ohnehin keine große Bedeutung zumißt?

Charlotte: Bei unserem Konzept geht es nicht darum, ein Allroundkonzept für alle künftigen Studiengänge zu schaffen. Das fände ich auch anmaßend. Es geht viel mehr um einen anderen Weg in der Bildung, um ein Vortasten und vor allem um die Frage, die wir stellen – Wie kann Bildung anders funktionieren?

Das Interview führte Maurice Schuhmann im Juni 2021.

Mehr Infos zur Initiative finden sich unter: https://selbstbestimmt-studieren.org

Titelbild: Gruppenbild bei einem Seminar in Sonnerden mit Studierenden aus den ersten beiden Jahrgängen des Projekts. Foto: Josef Stiegler

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