Selbsthilfegruppen: Betroffene unter sich

Weit verbreitet, vielfältig, wandelbar: Selbsthilfegruppen für fast alle Probleme des Lebens können »Schwimmflügel« verleihen – so lange mensch sie braucht.

Ariane Dettloff, Redaktion Köln

Neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen angesichts schwieriger Lebensumstände und widriger gesellschaftlicher Bedingungen, das ist ein gemeinsames Ziel von Selbsthilfegruppen verschiedenster Art. Bundesweit sind zwischen 70.000 und 100.000 Selbsthilfegruppen mit rund 3,5 Millionen Engagierten zu fast jedem gesundheitlichen und sozialen Thema aktiv. Sie arbeiten ausdrücklich selbstorganisiert, hierarchiefrei und unabhängig. Beeinflusst wurde die Selbsthilfebewegung unter anderem vom Psychoanalytiker und Autor Horst Eberhard Richter. Handlungsfelder der Selbsthilfegruppen allgemein sind Austausch, gegenseitige Hilfe und Geselligkeit, ebenso Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung, Wissenserwerb und gemeinsames Lernen, das Netzwerken und die Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Unser CONTRASTE-Schwerpunkt stellt neben einem Abriss der historischen Entwicklung von Selbsthilfeorganisationen ausgewählte Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen der Selbsthilfebewegung vor – ein kleiner Ausschnitt aus dem mittlerweile schier unüberschaubaren Selbsthilfe-Universum.

Geschichte und Entwicklung der Selbsthilfe zeichnet Katrzyna Thabaut, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Nakos (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) nach. Florian Bechtel blickt enthusiastisch auf seine positive Erfahrung mit einer Alleinerziehenden-Gruppe zurück, während Cebe (ein selbstgewähltes Pseudonym) kritisch über ihre Annäherung an eine Gruppe Depressiver berichtet. Julian Kurzidim vom Verein »Intakt« vermittelt Einblicke in die Lebenswelt extrem schüchterner Menschen und ihre Lösungsansätze. Maria Weber vom »Kreuzbund« schreibt offen über ihre »Karriere« als Suchterkrankte.

In ihrer Untersuchung zu Transparenz und Unabhängigkeit schildern Jutta Hundertmark-Mayser und David Brinkmann von der Nakos auch Gefahren bei einer etwaigen Kooperation von Gruppen oder deren Mitgliedern mit Sponsoren aus der Wirtschaft, insbesondere der Pharmaindustrie. Diese wittert hier leicht anzapfbare Profitquellen. Während insbesondere Medizin-Experten noch in den 70er Jahren vor »wildgewordenen Patientenmeuten« warnten, gibt es heute vielfältige fruchtbare Kontakte zwischen ihnen und der Selbsthilfebewegung. Dass eine Selbsthilfegruppe keineswegs eine Therapie ersetzen kann, bleibt dabei unbestritten.

Da chronische Erkrankungen zunehmen und primäre soziale Netzwerke – Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft – sich verändern, nimmt die Anzahl der Sebsthilfegruppen stetig zu. Allerdings haben sich während der Corona-Pandemie auch viele Gruppen aufgelöst. Jürgen Matzat von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG) bedauert, dass Selbsthilfegruppen teils nicht mehr in Präsenz stattfinden und zu reinen Beratungsstellen mutieren, einer Art digitaler Serviceleistung. Dabei sei bekannt, dass Einsamkeit ein starker Risikofaktor für ernste Erkrankungen ist. Matzat bedauert, dass »durch die Digitalisierung das Wesen der Selbsthilfe verfälscht wird«. Die Gedanken der wechselseitigen Hilfe und Gruppe im Sinne von Gemeinschaft sind, so Matzat, Elemente, die in keinem Fall verloren gehen dürfen.

Link: www.dag-shg.de

Titelbild: Selbsthilfe mit Hand und Fuß. Foto: pixabay.com


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