Eine Protestoper in Berlin

»Wem gehört Lauratibor?« ist die weltweit bisher einzigartige Form einer Protestoper gegen Wohnungsspekulation und Gentrifizierung. Die Idee entstand bei gemeinsamen Küchengesprächen über die bedrohten Projekte »Ratibor14« und »Lause bleibt.« in Berlin und ist zum Projekt eines gesamten Kiezes geworden.

Jürgen Weber, Berlin

»Die Gründe für den Kampf um Wohnraum, um Gerechtigkeit, um‘s Recht auf freie Migration, gegen fossiles altes, gegen neues, fruchtbar grünes Kapital, ihr seht‘s und wisst‘s, sie bleiben! Und somit bleiben wir, wir Habenichtse! Und somit bleibt auch unsere Oper, unser Lied vom Widerstand und von Protest…«, ruft Protagonist Tibor dem Straßenpublikum in der Reichenberger Str. in Berlin-Kreuzberg zu. Es ist die Wiederaufführung der über zweistündigen Oper »Wem gehört Lauratibor?« im Juni 2022.

Dabei wurde Anfang des Jahres im Lauratibor-Kollektiv heftig darum gerungen, ob die Oper 2022 wiederaufgeführt werden soll. Vieles hatte sich in der kurzen Zeit seit der Premiere im Juni 2021 verändert und von der guten Stimmung in der Mieter*innenbewegung nach dem erfolgreichen Volksbegehren der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen!« war nur noch wenig zu spüren. Allgemein wurde das Ausdünnen und die Schwächung der stadtpolitischen Bewegung beklagt. In der Wohnungsfrage galt »das gleiche wie sonst auch: alles ist wie immer, und zwar beschissener, wenn auch vieles noch sehr viel beschissener geworden ist« (Tibor).

Auch bei der Initiative »Lause bleibt.« gab es Veränderungen: Nach jahrelangem Kampf gegen den Verkauf der Häuser 10/11 konnten die zwei nebeneinanderliegenden Gebäude über eine Genossenschaft selbst erworben werden. Die Protestoper musste sich in diesem Jahr also wandeln und aktuelle Bezüge schaffen: Neue Redebeiträge des Mieter*innenwiderstandes wurden aufgenommen, die Rahmen­erzählung leicht modifiziert. Auch wenn manchmal schon alles verloren schien – auch 2022 spielten und sangen 25 Solist*innen und ein Chor von 70 Personen, begleitet von einem 17-köpfigen Orchester, vereint über die Suche nach dem verlorenen Trank der Solidarität und der Kraft gemeinsamen Widerstands. Erstmalig wurde »Wem gehört Lauratibor?« nicht nur im eigenen Kiez aufgeführt, sondern in Berlin-Mitte in der Habersaathstraße 40-48, wo sechs Monate zuvor wohnungslose Menschen Wohnungen besetzt hatten, die seit zehn Jahren leer standen. Die Entscheidung des Kollektivs für diesen Spielort ist auch ein Ausdruck des Selbstverständnisses von »Lauratibor«, entstanden aus dem Widerstand gegen Verdrängung von Mieter*innen und Gewerbetreibenden, genau mit diesem auch verbunden zu bleiben.

Gesellschaftspolitischer Aktivismus in Kunstform

»Lauratibor« ist ein umkämpftes Gebiet zwischen der Ratibor-Straße und der Lausitzer-Straße in Berlin-Kreuzberg. Der Gentrifizierungsdruck hat diesen Kiez zu einer Topadresse der Immobilienwirtschaft gemacht. Doch überall im Kiez kämpfen auch die Mieter*innen um ihre Wohnungen, um Arbeits- und Freiräume. In dem ehemaligen »Schmuddelkiez« entstand 2019 das Lauratibor-Kollektiv, eine Vereinigung von Menschen, die sich als Teil der Berliner Mieter*innenbewegung verstehen und die sich mit künstlerischen Mitteln gegen Mietspekulation und für eine Stadt für alle einsetzen. »Lauratibor« ist demnach gesellschaftspolitischer Aktivismus in Kunstform, Entscheidungen über Inhalt und Form des Projekts werden möglichst gemeinsam betrachtet und gefällt.

Die Idee einer Protestoper wurde geboren, als sich die Opernsängerin Marieke Wiekesjo (sie spielte 2021 die Protagonistin Laura) und die Theaterautorin Martina Müller bei gemeinsamen Küchengesprächen der bedrohten Projekte »Ratibor14« und »Lause bleibt.« über andere Formen des Widerstands kennenlernten. Aus der Idee wurde das feste Vorhaben, etwas Ungewöhnliches zu machen: Eine Protestoper im Reichenberger Kiez in Berlin für alle und von allen! Dazu würde keine große Strukturarbeit notwendig sein, denn die Menschen und Strukturen waren schon vorhanden.

Gespräche mit Nachbar*innen über ihre Ängste und Sorgen angesichts der miserablen Lage der Mieter*innen – Wann kommt die nächste Mieterhöhung? Wird unser Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt? Muss ich demnächst ausziehen? – bilden die erzählerische Grundlage des musikalischen Märchens. Die einzige fiktionale Geschichte bei »Wem gehört Lauratibor?« ist die Liebesgeschichte zwischen Laura und Tibor und ihre Suche nach dem Elixier des Widerstands.

Mit mehrsprachigen Flyern und Plakaten sowie auf Infoveranstaltungen wurde in der Nachbarschaft, bei Hausgemeinschaften und Projekten (die normalerweise wenig mit Oper zu tun hatten) für die Idee geworben und dort enthusiastisch aufgenommen. Allen wurde schnell bewusst, dass es ein einzigartiges und großes Projekt sein würde und viele mitmachen müssen, wenn es zur Aufführung kommen soll. In kurzer Zeit meldeten sich 100 Menschen (viele, die nie zuvor in einer Gruppe und vor Publikum gesungen hatten) für den Kiez-Chor, um mitzusingen, für die Band und die Gruppe der Solist*innen. Auch Covid-19 konnte der Begeisterung nichts anhaben. So fanden anfangs die Proben nur online statt, aber sobald es möglich war, im Freien.

Kleinere und größere Rollen, professionelle Sänger*innen und »Amateure«, Kiez- und Investoren-Chor, Kompositionen, zugeschnitten auf die Menschen, die singen, eine 20-köpfige Band, Dirigate, Kostüm und Schminke, Bühnenbau, Technik, grafische Gestaltung, das Einwerben notwendiger Zuschüsse – alle die Fähigkeiten und Kenntnisse, die direkt und indirekt zum Gelingen der Protestoper beitrugen, mussten organisiert und koordiniert werden. Dazu sollten an den Spielorten in der Reichenberger Str. möglichst viele Nachbar*innen mit einbezogen werden (Balkone, die genutzt werden können, Geschäfte für den Stromanschluss, Spätis, wo man auf die Toilette kann usw.). Die verschiedenen Gewerke mussten zusammenwachsen. »Ich habe im September 2020 zum ersten Mal bei der Chor-Probe mitgemacht und war sofort von der Musik, den verschiedenen Stimmen, aber auch den Texten begeistert«, erzählt Nelli vom Lauratibor-Chor. »Erst nach und nach habe ich verstanden, dass wir mitten in einem Prozess stecken. Lieder wurden immer wieder überarbeitet, neue kamen dazu. Und erst bei den Proben mit der Band und einzelnen Solist*innen hat sich auch bei mir langsam der Umfang, der Handlungsfaden und die gesamte Aussage der ganzen Geschichte zusammengesetzt – und mich immer mehr eingenommen.«

Zur Premiere in der Reichenberger Str. im Juni 2021 kamen 1.500 Menschen. Als der Lauratibor-Chor rund zweieinhalb Stunden später nach der letzten Ansage von Tibor das Widerstandslied an- und das Publikum in diesen »Gassenhauer« einstimmt und mit dem Ensemble auf der Straße tanzt, hat sich für den Kiez und die Bewegung der Mieter*innen eine neue Welt der Protestes eröffnet – der Kunstgedanke, dass die Grenze zum Publikum aufzulösen ist, hat sich realisiert. Der künstlerische Ausdruck ist dort hingekommen, wo es den politischen Protest schon gibt: auf die Straße.

Der Premiere folgten Aufführungen auf dem Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg, beim Kopenhagener Opernfestival, Auftritte des Kiez-Chores und der Band auf Demonstrationen und bei stadtpolitischen Aktionen.

Das Thema lag auf der Straße

Die Protestoper war von Anfang an nicht am normalen Kunstbetrieb orientiert, sondern an der Misere der profitorientierten Wohnungspolitik und an dem stadtpolitischem Widerstand. Das Thema lag mehr oder weniger auf der Straße und betrifft sowohl die Mitwirkenden, wie auch das Straßenpublikum. Im Kollektiv lässt sich die Betroffenheit der Einzelnen für andere erfahrbar machen. Manche Aktivist*innen haben schon mehr Erfahrung mit neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks von Protest, andere kommen aus der stadtpolitischen Bewegung und entdeckten künstlerische Ausdrucksformen als eine neue, eigene und progressive Form, sich politisch zu engagieren.

Von Anfang an stand im Raum, ob und wie sich ein so komplexes Arbeitsprogramm weiter kollektivieren lässt, wie bei all den alltäglichen Bedrängnissen die Geduld und Zeit aufgebracht werden kann, um Ideen und Entscheidungen ausführlich zu diskutieren und wie sich das Kollektiv weiter entwickeln kann und soll, sowohl im künstlerischen Ausdruck wie auch als Teil der stadtpolitischen Bewegung.

»Wenn ich heute durch Kreuzberg gehe, dann ist bestimmt jede zweite Person, der ich begegne, jemand die ich von Lauratibor her kenne«, erzählt S. vom Lauratibor-Chor. Der Zusammenhalt im Kiez ist gewachsen. Eine andere Wirkung von »Lauratibor« ist, dass auch andere Emotionen Platz gewinnen können, denen bei der großen Wut der Mieter*innen manchmal nicht genug Raum gegeben wird: Wenn beim Trauerzug im zweiten Akt die geräumten und verdrängten Projekte und Häuser zu Grabe getragen werden, wird ein Raum erschaffen, Trauer gemeinsam auszudrücken und in neuen Protest umzuwandeln.

Lauratibor »ist einfach eine grandiose Mischung aus ›Hochkultur-Oper‹ mit echten Opernsänger*innen, Berliner Straßenslang, guten politischen Inhalten, wunderbarer Musik (Band und Chor) und viel Humor und Witz«, so bringt Nelli vom Lauratibor-Chor die Stärke des Projekts auf den Punkt.

Link: www.lauratibor.de

Foto: Umbruch Bildarchiv (aufgenommen in der Reichenberger Straße in Berlin, 2021)

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