»Was fühlt dein Herz, wenn du kämpfst?«

Im Schweizer Jura wurde vom 19. bis 23. Juli das 150. Jubiläum des antiautoritären Kongresses nachgefeiert. Eine Reisegruppe aus Kassel geht der Frage nach: Kann das eigentlich gut gehen, wenn sich tausende Anarchist*innen aus der ganzen Welt treffen?

Leo, Kassel

»Anarchie im Straßenverkehr führt zu Schrott!« Der Kinosaal im kleinen Schweizer Städtchen Saint Imier ist voll mit schwarz gekleideten Menschen und gerade biegen sie sich vor Lachen. Es wird eine Straßenumfrage zu Vorurteilen gegenüber Anarchismus gezeigt. Aber Anarchie gleich Chaos – ist da nicht auch ein Fünkchen Wahrheit drin? Was passiert, wenn tausende Antiautoritäre eine Woche miteinander verbringen, komplett selbstorganisiert leben und lernen? Genau das wollten wir herausfinden. Unsere Reisegruppe hatte sich vorab darauf geeinigt, sicherheitshalber einen Campingkocher mitzunehmen, falls die Infrastruktur zusammenbricht. Alles schien möglich – im Guten, wie im Schlechten.

In Saint Imier ist der Anarchismus 1872 zu der Bewegung geworden, die wir heute kennen. Damals hatten sich nach Konflikten in der Ersten Internationale1 erstmals antiautoritäre Sozialist*innen autonom getroffen. Die gemeinsam geschriebene Resolution ging Dank des neuen Telegraphen blitzschnell um die Welt.

Buntes Treiben unter schwarzer Flagge

Dieses Ereignis wird hier und heute – 151 Jahre später – von zeitweise mindestens 6.000 Menschen gefeiert. Es gibt Konzerte, Filme, Vorträge und eine vegane KüFa (spendenbasierte Küche für Alle). Sechs Tage lang ist das charmante Uhrmacher*innen-Dorf brechend voll. Plötzlich sind hier Englisch, Spanisch, Niederländisch, Russisch, Portugiesisch zu hören. Zwischen Kuhställen und traditioneller Käserei, Dorfkirche und alter Fabrik entstehen Pop-Up-Kulturzentren. An jeder Straßenecke hängen selbstgebastelte Wegweiser, und natürlich ist am Ende keine Laterne mehr ohne Sticker. All das nehmen die Einwohner*innen gelassen hin, und nicht ohne eine Portion Lokalpatriotismus. Schließlich wurde hier schon einmal Geschichte geschrieben.

Man hört Querflöten aus dem Kreismusik-Tempel, Death Metal aus dem Keller des AZs und fröhlichen Techno aus dem Abspül-Zelt. Die Infrastruktur des Treffens ist unkommerziell, selbstorganisiert und spendenbasiert. Es gibt einen Kindergarten, eine Allergieküche und ein Care-Team, das Konflikte deeskalativ löst. Freiwillige putzen die Klos, bereiten ab 6 Uhr morgens das Frühstück vor, übersetzen Vorträge simultan, mischen auf Konzerten den Ton ab, und bleiben nächtelang auf, um organisatorische Fragen zu klären.

Nicht immer geht es reibungslos zu: Es laufen immer wieder Leute über die Bahngleise, die durch das Dorf verlaufen. So kommt es zu zwei Notbremsungen, bevor der Bahnverkehr tagelang durch Busse ersetzt wird. Die Kosten dafür liegen im fünfstelligen Bereich und könnten den Organisator*innen in Rechnung gestellt werden. Auch andernorts zeigt sich, dass sich in einer Woche keine Utopie aufbauen lässt: Das Care-Team muss wegen Überlastung in den Streik gehen. Einen Tag zuvor war bekannt geworden, dass in den FLINTA (Frauen Lesben Inter Nichtbinär Agender)-Duschen heimlich gefilmt wurde. Schon wieder!2

Das Programm ist ein überwältigendes Potpourri: Allein um alle Büchertische unterzubringen, braucht es eine ganze Eishalle. Es gibt 400 Veranstaltungen, zum Beispiel zu den Themen gewaltfreie Kommunikation, Beziehungsanarchie, dezentrale Lebensmittelversorgung und Aktionsklettern. In einem Workshop kann man sich wertschätzend mit Scham und Scheitern beschäftigen. In einem nächsten wird gebastelt. Die Filmvorführung zur militanten feministischen Gruppe »Rote Zora« in den Achtzigern ist brechend voll, am Ende gibt es minutenlang Applaus. Immer wieder bemerken Teilnehmer*innen positiv, wie viele queere3 Menschen sich hier wohlfühlen, spontan entstehen queere Treffpunkte.

Nach dem Mittagessen treffen sich Leute zum Rangeln im Gras oder zum antifaschistischen Jodeln. Wir trinken eine Rhabarberschorle von einem Kollektivbetrieb und müssen leider schnell weiter. Der Organizing-Workshop der Gewerkschaft IWW ist in drei Sprachen didaktisch so gut vorbereitet, dass die Teilnehmenden danach Feuer und Flamme sind. Zeitgleich gibt es in einem anderen Vortrag zum Krieg in der Ukraine heftige Diskussionen. Es kommt zu einer Störaktion bei einer Gedenkminute für die Opfer des Kriegs und Gerangel ums Mikro. Doch am Ende der Veranstaltung diskutieren trotzdem noch 100 Menschen lange in der Eingangshalle über das Thema. Diesmal geht es respektvoller zu, man lässt sich ausreden und hört sich zu – einer der Vorzüge persönlicher Treffen, im Gegensatz zum Internet.

Was fühlt dein Herz, wenn du kämpfst?

Am spannendsten ist vielleicht der internationale Austausch. So müssen sich die Zapatistas in Mexiko gegen Megaprojekte der Deutsche Bahn verteidigen. In Belarus unterstützt das Anarchist Black Cross Menschen, die politische Unterdrückung und Folter erleben – am Ende haben alle Tränen in den Augen. Es gibt Berichte aus Peru, Afghanistan, Israel, Russland, der Türkei, Indien, Italien und Frankreich. Trotzdem bleibt das Publikum insgesamt weitestgehend zentraleuropäisch, der internationale Anreisefonds hatte zu wenig Spenden und viele Aktivist*innen mussten sich per Zoom zuschalten, statt live dabei sein zu können.

Unsere Zeit in St.Imier ist geprägt von inhaltlich dichten Vorträgen und den konzentrierten Diskussionen danach. Auch wenn die Mehrheit unter 30 ist, liegt der Fokus nicht auf Party, sondern auf den Inhalten. Bei Sonnenuntergang am letzten Abend gibt es dann aber doch noch ein bisschen Remmidemmi: Johlend fahren Leute im Sonnenuntergang ein Einkaufswagen-Rennen den Hang neben dem Campingplatz herunter. Um sie herum die traumhafte Landschaft des Schweizer Jura. Wir stehen oben am Hang und schauen auf das Spektakel herunter, die Hände in den Hüften. Das kleine Abenteuer geht gut: Die Wägen werden lachend und singend von Leuten angehalten, die unten auf sie warten. Auch wenn es nicht perfekt war: Anarchismus im Straßenverkehr hat in St.Imier nicht Chaos bedeutet, sondern gegenseitige Unterstützung.

Persönliches Fazit

Was bleibt von St. Imier 2023? Niemand hat eine neue antiautoritäre Internationale ausgerufen. Und selbst wenn man es versucht hätte, bleibt fraglich, ob die Hippies und die Punks, die Pazifist*innen und die mit Gewehren auf den T-Shirts, die Nihilist*innen und die Gewerkschafter*innen sich je auf ein Programm einigen könnten. Vielleicht hätten wir neben dem Wohlfühlprogramm auch mehr über Strategien gegen den globalen Rechtsruck sprechen sollen. Doch der Austausch zu Gefühlen hat auch vielen Kraft gegeben. Um einen Vortrag zu den Zapatistas frei zu zitieren: »Was fühlt dein Herz, wenn du kämpfst? Nur wenn du dabei etwas fühlst, kämpfst du gut.«

Was St. Imier für mich zum Erfolg gemacht hat: Wir haben uns vernetzt mit Menschen, deren Sprache wir nicht sprechen und deren Namen wir nicht kennen. Und das aus demselben Grund, aus dem unsere Vorgänger*innen vor 150 Jahren es taten: Wir wollten den Beweis dafür erleben, dass wir nicht alleine sind. Da draußen gibt es noch so viele andere, die an die Möglichkeit einer anderen Welt glauben und daran arbeiten. Wir sind viele und wir sind vielfältig, und wir können gemeinsam etwas bewegen.

Link: https://anarchy2023.org/de

Titelbild: Anlässlich des 150. Jahrestages der ersten antiautoritären Internationalen trafen sich im Juli tausende Anarchist*innen im Schweizer Ort Saint Imier – die meisten übernachteten in Zelten.
Foto: Vera Bianchi


  1. Die Erste Internationale oder auch Internationale Arbeiterassoziation (IAA) wurde 1864 von englischen Gewerkschaftern und französischen Emigrant*innen in London gegründet. Karl Marx wurde als Mitglied des vorläufigen Organisationskomitees eingeladen und hatte entscheidenden Einfluss auf deren Verlauf.

  2. Im Jahr 2020 wurde bekannt, dass beim linken Festival »Monis Rache« über Jahre heimlich in Dixie-Klos von einem linken cis-Mann gefilmt wurde. Das Material verkaufte er auf Porno-Plattformen. Mehr dazu im Buch »Piss on Patriarchy« der Gruppe Mona, erschienen im Verlag edition assemblage.

  3. Queer = lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, nichtbinar, asexuell, intersex und viele weitere Identitäten. Queer sind Menschen, die entgegen der gesellschaftlichen Geschlechter-Norm leben und lieben.

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