Muss Strafe sein?

Strafe ist laut Strafrechts-Lehrbuch das absichtliche Zufügen eines Leidens. Wollen wir das? Geht es auch anders? Restorative Justice, ein auf Wiedergutmachung und Handlungskompetenz ausgerichtetes Rechtswesen, weist einen anderen Weg. Es ist damit einer von mehreren Ansätzen, die die Straflogik in unserer Gesellschaft nach und nach ablösen könnten.

Nicole Lieger, Politologin, Wien

»Die Geschichte der Strafe ist für die Menschheit in Vielem nicht weniger beschämend als die Geschichte der Verbrechen«, sagte einmal der italienische Rechtsphilosoph Giorgio del Vecchio. Angesichts dieser Geschichte sind wir wohl gut beraten, extrem vorsichtig umzugehen mit den Befugnissen, die wir staatlicher Zwangsgewalt zubilligen. Die Idee, jemandem absichtlich Leid zuzufügen, um damit vermeintlich in einem größeren Kontext Gutes zu bewirken, hat Argumentationsnotstand. Vor allem, wenn der Leidzufügung wenig positive und sogar deutlich negative Wirkung nachgewiesen werden kann, und statt dessen wesentlich humanere Alternativen bestehen, die sogar noch bessere Ergebnisse bringen.

System ist nicht Affekt

Wenn wir spontan oder im Affekt handeln, verhalten wir uns manchmal nicht so, wie es unseren eigenen Idealen entspricht. Wenn wir hingegen ein System aufbauen, dann haben wir die Zeit, nachzudenken, und es so auszurichten, dass es unseren Idealen bestmöglich entspricht. An welchen Idealen möchten wir unser staatliches System also ausrichten? Gehört dazu, dass Menschen nicht absichtlich Leid zugefügt wird, wenn es irgendwie anders geht? Ja aber, wäre es denn möglich, auf Strafe vollständig zu verzichten?

Ob es Strafrecht überhaupt geben soll habe ich mich lange Zeit nicht gefragt. Strafrecht gibt es eben, oder? Erst viel später habe ich erfahren, dass es auch andere Zugänge gibt, die eher den Namen Wiedergutmachungsrecht verdienen.

Praktisch alle europäischen Rechtssysteme beinhalten bereits Komponenten, die unter dem Titel Restorative Justice zusammengefasst werden können. Von alten Traditionen in Nordamerika und pazifischen Inseln bis zur Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika reichen die Beispiele und die Quellen von Inspiration und Erfahrung in diesem Bereich. Der Fokus liegt dabei darauf, materiellen Schaden und emotionale Verletzungen möglichst wieder gut zu machen, und Beziehungen so weit zu regenerieren, dass ein gemeinsames Zusammenleben in der Gesellschaft für die weitere Zukunft möglich wird.

Geht es auch ohne Strafe?

Geht es denn anders? Geht es auch ohne Strafen? Ob das zu hundert Prozent möglich ist, weiß ich nicht. Das muss ich aber auch nicht wissen. Was ich weiß, oder mir zumindest deutlich erkennbar scheint, ist, dass es eine ganze Palette von Ansätzen gibt, mit denen wir uns in die gewünschte Richtung bewegen können. Keiner von diesen Ansätzen ist, alleine betrachtet, ein Allheilmittel. Der eine hilft hier, der andere da – und gesamt genommen können sie unsere Gesellschaft ein gutes Stück weiter bewegen. Von dieser neuen gesellschaftlichen Situation aus eröffnen sich wieder neue Perspektiven und Möglichkeiten, zum Beispiel:

  • Restorative Justice: Wiedergutmachen statt Strafen
  • Legalisieren: den Horizont des Zulässigen erweitern
  • Konflikt- und Problemlösungskompetenz stärken, individuell und kollektiv
  • systemische Rahmenbedingen verändern
  • im langen Zeithorizont denken

Der Weg entsteht beim Gehen, und mögliche erste Schritte, für uns hier und jetzt, gibt es in Hülle und Fülle.

Titelbild: Silviarita (CC/pixabay)


Beiträge im Schwerpunkt

Seite 9
Was ist Restorative Justice? – Wenn Opfer und Täter gemeinsam an Lösungen arbeiten

Seite 10
Und wie darf man sich das vorstellen? – Mediation im Strafrecht

Seite 11
Funktioniert das auch bei Schwerverbrechen?

Seite 12
Jenseits der Restorative Justice: Weitere Alternativen zur Straflogik

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