Kolumne: Abhängigkeit

Als ich noch Lehrer war, stand das Thema »Entwicklungspolitik« ganz oben im Curriculum. Schon die Väter des Liberalismus waren davon überzeugt, dass sich die Teilnahme am Welthandel für alle Länder lohnen würde. Das leuchtet im Prinzip ja ein: Wenn jedes Land das produziert und auf den (Welt-) Markt bringt, was es am effektivsten und billigsten herstellen kann, so müsste der Reichtum für alle wachsen. Und für diejenigen, die es nicht glauben wollten, gab es dann noch die »Theorie der komparativen Kostenvorteile«: Sie besagt, dass sich die Teilnahme am Welthandel auch für solche Länder lohnt, die kaum Produkte billiger als die Konkurrenz anzubieten haben. Internationale Arbeitsteilung fördere die Wohlfahrt aller am Handel beteiligten Volkswirtschaften. Expandierender Welthandel galt als das Rezept für den höchsten »Wohlstand der Nationen« , und die Politik hatte nur dafür zu sorgen, dass dieser Welthandel möglichst reibungslos lief.

Illustration: Eva Sempere

Eindrucksvoll, wie schnell diese über 200 Jahre gültige Lehrmeinung mit der Pandemie in Frage gestellt wurde. Auf einmal entdeckten Politik und Massenmedien »lange Lieferketten« und deren logistische Herausforderungen. »Globalisierung« bekam eine negative Konnotation, die sie bei den wenigen kritischen Ökonomen schon immer hatte, die vor allem das ökonomische Machtgefälle zwischen dem Zentrum und der Peripherie moniert hatten und die segensreichen Wirkungen durch komparative Kostenvorteile besonders für die »Entwicklungsländer« nicht bestätigen wollten.

Sie entdeckten die Schattenseiten, die es für die »latecomers« immer schon gab: ihre Abhängigkeit, ja Erpressbarkeit. Hatte sich der Welthandel verändert oder nur unsere Stellung darin? Waren wir aus der Komfortzone gerutscht?

Abhängigkeit – gegenseitige Abhängigkeit – hätte durchaus eine heilsame Wirkung: Nur moralische Appelle an gegenseitiges Vertrauen bleiben gegenüber der brutalen Ökonomie des Kapitalismus wirkungslos. Aber eine offensichtliche gegenseitige Abhängigkeit wäre die beste Basis für ernsthafte Verhandlungen, Respekt und weltbürgerliches Denken. Wie schön, wenn wir alle gegenseitig erpressbar wären, damit wir an unüberlegten Handlungen und Emotionen gehindert würden.

Das von Fukuyama 1989 deklarierte »Ende der Geschichte« hieß ja nichts anderes als das Ende der Politik und die Zukunft dem Weltmarkt zu überlassen – im Interesse seiner Profiteure. Unser Jahrhunderte langer Aufenthalt in der Komfortzone des Kapitalismus hat uns verwöhnt – jetzt müssen wir uns mit den typischen Unbequemlichkeiten und Problemen beschäftigen, die dieses Weltsystem für diejenigen bereithält, die gerade nicht die Sieger und Profiteure sind. Nicht die gegenseitige Abhängigkeit ist das Problem, sondern die Schwierigkeit einzusehen, dass wir wieder viel stärker planwirtschaftliche und politische Vorgaben machen müssen, um den Tiger Kapitalismus für alle zu bändigen und einseitige Abhängigkeiten abzuschaffen.

Uli Frank

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