Corona-Pandemie: Freiheit vs. Sicherheit

Die Plattitüde dass, wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen am Ende beides verlieren wird, erfreut sich in Zeiten der Pandemie großer Beliebtheit. Neu ist allerdings, dass sich die übliche Gegnerschaft von freiheitsliebenden Linken und sicherheitsbedachten Rechten umgekehrt zu haben scheint.

Johannes Jung, Berlin

Ich habe die Bedeutung des Zitates immer als eine Wahrheit über eine wechselseitige Struktur von Freiheit und Sicherheit verstanden – als Dialektik eben. Wenn sich also in der Pandemie wieder die Frage stellt: »Freiheit oder Sicherheit?«, sind wir dann gesellschaftlich nicht hinter die Versöhnung der beiden zurückgefallen?

In Deutschland wird jede Maßnahme als eine Freiheitseinschränkung zugunsten einer Sicherheit – der ärztlichen Versorgungssicherheit oder der Sicherung wirtschaftlicher Interessen – wahrgenommen. Diese Wahrnehmung der Maßnahmen und die Bewertung ihrer Verhältnismäßigkeit, egal ob durch Befürworter*innen oder Gegner*innen, erscheint dabei als Nullsummenspiel. Es scheint sich also um eine Entweder-oder-Frage zu handeln.

Befürworter*innen der Maßnahmen vertrauen dabei auf die Notwendigkeit dieser zeitlich begrenzten Einschränkungen (auch weil sie aufgrund hegemonialer Verwertungsimperative alternativlos erscheinen und den Bürger*innen sogar ein Stück weit eine paradoxe Verantwortungsübernahme und damit Teilhabe am gesellschaftlichen Wohl – durch gesellschaftliche Enthaltung – ermöglicht). Auf der anderen Seite ziehen die Gegner*innen für ihre Freiheit ins Feld, nicht bereit, einen Teil davon für die Sicherung ihrer eigenen und der gesellschaftlichen Gesundheit preiszugeben. Es scheint sehr einfach, hier Stellung zu beziehen.

Während Links-liberale gesellschaftliche Abhängigkeiten eher als Vorbedingungen ihrer Freiheit und damit als schützenswert erachten, betonen Rechte ihre Unabhängigkeit und (geglaubte) Autonomie als strukturelle Voraussetzung zur freiwilligen Teilnahme an der Gesellschaft. So weit, so alt der Hut.

Auf der einen Seite wird also die Befolgung der Maßnahmen identitätspolitisch aufgeladen. Alltägliches, singuläres Handeln wird einmal mehr – viel drastischer als der Konsum von Bio-Produkten das jemals vermocht hat – zum heiligen Gral gesellschaftlicher Fortschrittlichkeit und Verantwortungsübernahme stilisiert; ganz so, als gäbe es die Institutionen nicht, deren Aufgabe es ist, individuelles Handeln zu kollektivieren.

Versagen staatlicher Institutionen

In diesem uralten Spannungsfeld politischer Grabenkämpfe wird einmal mehr die Lösung des komplexen gesellschaftspolitischen Problems der Versöhnung von Freiheits- und Sicherheitsansprüchen zu einer Geschmacksfrage verelendet. Dabei sollte dieser Konflikt im modernen Staat schon längst versöhnt sein. Die staatlichen Institutionen tragen die Verantwortung für die Wahrung öffentlicher Güter wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Sozialhilfe, Infrastruktur oder Katastrophenschutz. Damit sollte dem Konflikt zwischen dem linken Primat der Abhängigkeit und dem rechten Primat individueller Freiheit zumindest im Ansatz die Schärfe genommen sein. Im modernen Staat vereint sich sowohl die Garantie individueller Freiheitsrechte als auch die Garantie der Versorgung mit den eben genannten, gesellschaftlich notwendigen Gütern.

Es geht also keineswegs um die Frage, ob wir ganz persönlich die individuelle Freiheit oder die gesundheitliche Sicherheit präferieren. Dass es so scheint, als müsste man sich in der Pandemie für eines der beiden entscheiden, ist indikativ für ein Versagen unserer staatlichen Institutionen, denen die Verantwortung für die Aussöhnung der beiden Positionen eingeschrieben und übertragen ist.

Beispiel Bildungspolitik

Ein gutes Beispiel hierfür ist das Bildungswesen. Eine digitale Lehre, die ihre Erprobung erst im Ernstfall erfährt, kann nur scheitern – das wird niemanden wundern. Was aber vielleicht nicht einmal Expert*innen geahnt haben ist, dass das Versäumnis der Ausfinanzierung von Schulen und die Versorgung mit technischen und fachlichen Kompetenzen zur digitalen Lehre durch eine Pandemie von einem bildungspolitischen Fiasko zu einer Gesundheitsgefahr wird. Dass die neoliberale Mangelwirtschaft nicht nur den Haushalt schmälert, sondern im Ernstfall die bürgerliche Kleinfamilie an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt, mag auch niemand geahnt haben. Im Gesundheitswesen spielt sich Ähnliches ab und dass, obwohl die Beschäftigten des Sektors seit vielen Jahren vor Unterversorgung und Missständen warnen.

Aber wozu, verdammt nochmal, müssen wir überhaupt alles ahnen, wenn wir doch Bildung und Gesundheit an politische Institutionen geknüpft haben, deren Aufgabe die Sicherung und Wahrung ihrer Funktionalität ist? Wer hat denn hier nicht nur das Aufkommen des Internets verpennt, sondern in so grober Fahrlässigkeit die öffentlichen Einrichtungen kaputt gespart, dass wir jetzt scheinbar nur noch wählen können, ob wir duckmäuserisch eine Maske tragen und zu Hause bleiben (außer wenn wir unsere Arbeitskraft verscherbeln) oder in völlig verblödeter Heldenstilisierung unsere individuelle Freiheit und die aller anderen »verteidigen« und dabei zum Gesundheitsrisiko für andere werden? Beide Positionen verkennen den Fakt, dass wir in einer repräsentativen Demokratie die Verantwortung für die Wahrung von Freiheit, Sicherheit, Gesundheit, Bildung etc. delegiert haben.

Die Pandemie lehrt uns, dass der berühmte Satz Benjamin Franklins einer Reformulierung bedarf: »Wenn der Staat Sicherheit nicht schafft, um Freiheit zu gewinnen, wird die Gesellschaft am Ende beides verlieren.«

Damit ist dann nicht die Vorratsdatenspeicherung und Massenüberwachung legitimiert – denn Sicherheit und Überwachung sind auf keinen Fall dasselbe –, sondern die politische Forderung formuliert nicht nur, den Sicherheitsapparat krisensicher auszufinanzieren und handlungsfähig zu machen, sondern auch die Institutionen gesellschaftlicher und kultureller Reproduktion abzusichern. Denn sonst müssen wir, wie derzeit, unsere Freiheiten abgeben UND gleichzeitig unsere Gesundheit riskieren, weil zum Beispiel die Schulen ihre Funktion aufgrund ihrer Rückständigkeit nur in analoger Form erfüllen können.

Wir verlieren im Wochentakt neue individuelle Freiheit, um auszugleichen, dass der Staat sich durch seine neoliberalen Doktrinen seit Jahrzehnten langsam seiner Verantwortung entzogen hat. Gleichzeitig reiben sich bürgerliche Presse und Teile des bürgerlich-linken Spektrums lieber im Antagonismus zu Querdenken auf. Natürlich kann man Querdenken nicht einfach tolerieren, solange es ein Tummelplatz für Faschist*innen ist. Querdenken ist aber nicht die Wurzel, sondern der ausgedörrte Nährboden auf dem die faschistische Ideologie am besten gedeiht. Dieser Nährboden der politischen Bewegung ist zunächst Unzufriedenheit – darin unterscheiden sich linke und rechte Bewegungen nicht. Aber solange die »links-grün-versifften« Meinungsführer*innen sich damit begnügen, jeden Teil des Feldes, in dem (auch) der Faschismus gedeiht, für verbrannten Boden und politisches Brachland zu erklären, verfestigt sich der Antagonismus und man schlägt sich auf die Seite der Politik, den eigentlich Verantwortlichen – und wird so zum Teil des Problems.

Der Karren der neoliberalen Politik

Wenn die linken Kräfte sich weiterhin im unbedingten (!) Kampf gegen den Faschismus absorbieren und dabei übersehen, dass sie sich damit leider auch vor den Karren der neoliberalen Politik spannen lassen, werden politische Bewegungen zu einem undynamischen kalkulierbaren Theater.

Alle wollen das gleiche: funktionierende Versorgung mit Gütern gesellschaftlicher Reproduktion und dadurch Sicherung persönlicher und gesellschaftlicher Freiheiten und Handlungsspielräume. Aber weil der Staat jenen Anforderungen nicht gerecht wird, tritt jede Seite wieder für ihre singulären Forderungen ein – mit denen sie sich dann wieder scheinbar diametral gegenüberstehen. Und der Faschismus reibt sich die Hände und nutzt die Situation schamlos aus, mobilisiert die freiheitsliebenden Rechten, vergrault Liberale und hält Linke und Antifaschist*innen in Schach.

Titelbild: Zur Sicherheit: In der gesamten Innenstadt von Frankfurt muss jetzt auch im Freien und auf dem Fahrrad eine Maske getragen werden. Foto: 7CO / flickr.com (CC)

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