Kunst – sozial und politisch

Unser Zusammenleben anders gestalten: Warum organisieren sich Künstler*innen in Kollektiven und was kommt dabei heraus? Antworten auf solche und ähnliche Fragen sucht dieser CONTRASTE-Schwerpunkt.

Brigitte Kratzwald, Redaktion Graz und Marlene Seibel, Redaktion Lüneburg

Wenn es um selbstorganisierte Kunst geht, muss mensch sich erst einmal der Frage stellen, was denn Kunst eigentlich ist: Sind es hochgehandelte oder in weltberühmten Galerien ausgestellte Gemälde oder Plastiken? Sind es in klassischen Konzerthäusern dargebotene Konzerte? Sind es lyrische Texte oder Arthouse-Filme?

Wenn es um selbstorganisierte Kunst geht, dann hat die Antwort auf die Frage nach dem, was Kunst ist, eher wenig mit dem zu tun, was unter Kunst im herkömmlichen Sinne verstanden wird. Wenn Menschen sich für künstlerische Aktivitäten in selbstorganisierten Gruppen zusammenfinden, ist für den Kunstbegriff vielmehr jenes erweiterte Verständnis anzuwenden, das Joseph Beuys einst geprägt hat: Beuys sah jeden Menschen als Künstler im Sinne eines sozialen Gestalters an. Gesellschaftsgestaltende, soziale Projekte und Handlungen galten darum für ihn ebenso als eine Form der Kunst, wie etwa Plastiken, Gemälde oder Performances Ausdrücke anderer Kunstformen sind.

Kunst als Gesellschaftsgestaltung

Auch den Künstler*innen aus den in diesem Schwerpunkt vorgestellten Initiativen und Projekten geht es in erster Linie nicht darum, Kunstwerke im herkömmlichen Sinne zu kreieren, zu verkaufen und damit auf dem Kunstmarkt erfolgreich zu sein. Vielmehr haben die Künstler*innen eben jenen gesellschaftsgestaltenden oder politischen Anspruch, den Beuys der »sozialen« Kunst zuschrieb: Sie wollen gestalten, sie wollen verändern – und zwar unser Zusammenleben.

Das Wiener Festival alternativer Chöre (Seite 10) etwa wird organisiert, um jenen selbstorganisierten, sozial und politisch engagierten Chören eine Bühne zu geben, die mit ihren antifaschistischen, zur Solidarität aufrufenden Liedern neue Wege des politischen Protests erproben. Das Partycipation-Festival (Seite 9) legt sein Augenmerk hingegen auf Nachhaltigkeit und verbindet Musik mit Workshops zum Thema. Die Gestaltung des Gruppenprozesses während der Workshops ist dabei mindestens genauso wichtig, wie das Ergebnis der Zusammenarbeit. Das Künstler*innen-Kollektiv »Brust raus!« (Seite 11) setzt sich mit seiner Arbeit für frauenpolitische Anliegen ein.

Teilhabe stiften

Ein Ziel der Initiativen ist es darüber hinaus, mehr kulturelle Teilhabe zu stiften, Kunst also zu demokratisieren: Die international aktive Initiative Musethica zum Beispiel (Seite 12) macht klassische Musik jenen Menschen zugänglich, die sonst wenig Zugang dazu haben. Das Kollektiv Eigenklang (Seite 11) wieder bezieht das Publikum als Teil des Klangkörpers mit ein. Die Verbindung, die in beiden Projekten zwischen den Künstler*innen und ihren Zuhörer*innen entsteht, ist eine tiefe, auf gegenseitiger Wertschätzung fußende – eine durch und durch soziale also.

Die Arbeit eines künstlerischen Kollektivs ist aber nicht nur für das potentielle Publikum bereichernd: Sich mit anderen zusammen zu tun, stärkt auch die eigene Position. Die Position Jugendlicher etwa, die selbst etwas auf die Beine stellen wollen gegenüber Politiker*innen, die Position von Frauen in einer männerdominierten Kunstszene oder von Musiker*innen, die sich eine Nische erschließen wollen: Wer gemeinsam mit anderen gestaltet, kann mehr verändern.

2021 wäre Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden. Dass seine Theorie zum erweiterten Kunstbegriff heute in so vielen Projekten praktisch gelebt wird, hätte ihn sicher tief bewegt.

Titelbild: eigenklang Kollektiv


Weitere Beiträge im Schwerpunkt

Seite 9
Das Festival »Partycipation«

Seite 10
Festival alternativer Chöre, Wien

Seite 11
Künstlerinnenkollektiv »Brust raus«
eigenklang

Seite 12
Konzertpraxisprojekt »Musethica«

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