… zum Lichte empor

9.000.000 Straßenlaternen gibt es in Deutschland und einige davon stehen am Kemnader Stausee – nur um einen zwölf Kilometer langen Skaterrundkurs nachts zu beleuchten. Auch Privathäuser schmücken sich nach meiner Beobachtung immer mehr mit manchmal regelrecht opulenten Beleuchtungsanlagen. Fotos aus der internationalen Weltraumstation zeigen auf der Nachtseite der Erde immer größere hell beleuchtete Flächen.

Unsere Kolumne: Blick vom Maulwurfshügel.
Illustration: Eva Sempere

Die längste Zeit in der Geschichte gab es für die meisten Menschen kein künstliches Licht. Wenn die Sonne unterging, war alles dunkel. Die größte Lichtquelle über lange Zeit waren die Herdfeuer und später Kienspäne, Kerzen oder Fackeln. Finsternis war der Zustand des Schreckens. Dort trieben die Geister und Toten ihr Unwesen, Gefahren und Verbrechen lauerten dort. Noch heute lässt sich leicht vorstellen, wie groß die Sehnsucht nach Licht gewesen sein muss – und wie bedrohlich, wenn im Herbst und Winter die Tage immer kürzer wurden. Der Schrecken der Verfinsterung ergriff die Menschen.

Umso verständlicher, dass der Tag oder die Nacht der Sonnenwende in vielen Gesellschaften mit Inbrunst, Begeisterung und Dankesgebeten gefeiert wurde, und dass die Einführung künstlichen Lichts das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen nachhaltig veränderte. Dass die Christen den Geburtstag ihrer Hauptperson (»Ich bin das Licht der Welt«) gerade auf diesen besonderen Anlass legten, war sicher nicht nur Strategie, sondern würdigt den besonders intensiven und emotionalen Zeitpunkt.

Inzwischen sind wir mehr als Licht-verwöhnt. Schon gibt es die Wortverbindung von Licht und Verschmutzung. Wohnviertel werden attraktiv, wenn sie als lichtarm gelten und Straßenlampen werden teilweise wieder abgedunkelt. Während die christliche Interpretation der Sonnenwendfeier als Weihnachtsfest sich eher in bestimmte traditionelle Szenekreise zurückzieht, freuen sich die meisten Menschen auf Weihnachtsgeschenke, und die Geschäftsleute auf das Weihnachtsgeschäft.

Aber auch diese Sinngebung könnte zunehmend an Attraktivität verlieren. Schließlich sind es nicht nur die verschenkten Sachen als Gebrauchswerte, die glücklich machen, sondern das »Einkaufserlebnis« rückt immer mehr in den Vordergrund. Im modernen kapitalistischen Weltsystem, in dem die Menschen strukturell vereinzelt sind, stellen die Waren die Verbindung zum gesellschaftlichen Reichtum und damit zu den anderen her – und warum sollte man dieses für soziale Lebewesen grundlegende Bedürfnis nur für eine so kurze Zeit des Jahres zu befriedigen versuchen?

Aber die wunderbare Erfahrung, dass die Tage wieder länger werden, wird für die Menschen ewig bedeutsam bleiben und starken Einfluss auf ihr Lebensgefühl haben. Vielleicht widmet eine spätere Generation der Sonnenwende eine neues Fest. Schon die Arbeiterbewegung wollte »zum Lichte empor«. In einer zukünftigen post-kapitalistischen Gesellschaft wäre die Wintersonnenwende der passende Anlass, um den historischen Ausgang aus der Finsternis zu feiern.

Uli Frank

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