Stadtluft macht frei

»Dich, o Thurm will ich begrüßen Ernst und stark, aus Quadern mächtig Aufgebaut, schaust Du bedächtig Auf die Stadt zu Deinen Füßen« – so lautet die Inschrift auf dem »roten Turm« im Zentrum von Halle an der Saale. Dort sitze ich und beobachte die uralte Turmuhr, die immer noch (seit 1486) pünktlich läuft … und denke an die vielen Menschen, die sich im Laufe der Zeit unter ihr tummelten.

Um mich herum sind die bunten Stände eines städtischen Wochenmarktes aufgebaut. Dazwischen schieben sich die Menschen hin und her, betrachten mehr oder weniger gründlich die vielen bunten Auslagen, bleiben an »ihrem« Marktstand stehen, dem sie vielleicht schon seit Jahren treu sind, und halten dort ein Schwätzchen. Andere treibt die Lust auf ein Schnäppchen umher, manche lassen ihre Blicke schweifen, um Bekannte zu entdecken. Die Atmosphäre ist entspannt: Der Marktplatz ist für den Straßenverkehr gesperrt.

Unsere Kolumne: Blick vom Maulwurfshügel Illustration: Eva Sempere

Im Mittelalter waren die Marktplätze der Mittelpunkt der Städte und die Märkte Zentrum des städtischen Lebens. Und gab es dort sicher auch Gaukler, Märchenerzähler, Prediger, Bader und Quacksalber. Und ganz besonders interessant dürften die Fernhandels-Kaufleute gewesen sein, die seltene Dinge aus fernen Ländern brachten und damit einen Hauch Globalisierung in die Städte brachten. Hier unterschied sich das Leben fundamental vom Alltag auf dem Land.

Besonders faszinierend musste die Stadt für Leibeigene der ländlichen Feudalherren sein; denn die Städte boten für sie die einzige Chance aus der Leibeigenschaft herauszukommen. »Stadtluft macht frei« hieß die Regel: Wer »über Jahr und Tag« sich im Gewusel der Stadt verstecken konnte, wurde frei und durfte von seinem ehemaligen Feudalherren nicht zurückgeholt werden. Zwar war das nicht der Eintritt ins Paradies — auch das Leben in den Städten war hart: Es mussten Gebühren bezahlt und das Bürgerrecht teuer erkauft werden von denen, die es nicht geerbt hatten. Die größte Chance für ehemalige Leibeigene war, irgendwo als Magd oder Knecht oder Dienstbote arbeiten zu dürfen. Aber in der Stadt konnte man z.B. heiraten, wen man wollte, Besitz haben und erben und vererben: Stadtluft machte frei und bot ganz neue Möglichkeiten!

Kein Wunder, dass eine regelrechte urbane Revolution einsetzte: Allein in Deutschland entstanden innerhalb von 250 Jahren fast 2.000 neue Städte. Die relative Freiheit von den Feudalherren und die Selbstorganisation der Bürger (z.B. in den Zünften) lösten gewaltige ökonomische, kulturelle und wissenschaftlichen Aktivitäten aus. So wurden die Städte mit ihren Märkten zum entscheidenden Transformationshebel vom Mittelalter zur Neuzeit.

Ihre Attraktivität hat »die Stadt« bis heute nicht eingebüßt. Seit 2008 leben weltweit mehr Menschen in der Stadt als auf dem Lande. 2050 sollen es schon 70 Prozent sein.

Und was ist mit den städtischen Wochenmärkten wie der unter dem »roten Turm« in Halle? Sie tragen kaum mehr zur Versorgung der Bürger bei, aber erinnern daran, dass die Menschen neben dem Drang nach Handlungs- und Handels-Freiheit auch das Bedürfnis nach Überschaubarkeit, Vertrautheit und Stabilität haben – vielleicht genau das, was Hartmut Rosa in seinem Resonanzbuch unter »Heimat« versteht.

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