Wohnen neu denken

Inspiriert von den Texten und konkreten Projekten rund um den Think Tank »Neustart Schweiz« gründete sich vor zwei Jahren die Initiative »Neustart Tübingen«. Ziel ist der Aufbau einer Wohngenossenschaft nach dem Neustart-Modell für 500 Bewohner*innen mit einer umfassenden sozial-ökologischen Infrastruktur.

Initiative Neustart Tübingen

Hintergrund der Initiative ist, dass in Tübingen seit 30 Jahren eine vergleichsweise progressive Stadtentwicklungspolitik umgesetzt wird, und trotzdem – bzw. auch deswegen – auch hier die Mieten seit zehn Jahren massiv ansteigen. Neue Stadtteile wie das »Französische Viertel« wurden nach dem »Tübinger Modell« im Konzeptvergabeverfahren an Baugruppen statt an meistbietende Investoren vergeben und in Form der alltagstauglichen, nutzungsgemischten Stadt der kurzen Wege entwickelt. Sie bieten hohe Wohn- und Lebensqualität und tragen so zur steigenden Attraktivität Tübingens und damit auch zum Ansteigen der Mietpreise bei. Zudem ermöglicht das Eigentumsmodell der Baugruppen den Weiterverkauf von Wohnungen und damit steigende Mietpreise.

Daneben hat Tübingen eine lange Tradition von Hausbesetzungen – aktuell ist im Sommer 2019 wieder ein Haus besetzt und wird voraussichtlich in ein Wohnprojekt umgewandelt. Das Mietshäuser Syndikat ist mit sechs Projekten und rund 300 Bewohner*innen in Tübingen breit verankert. Der Ansatz »Immobilien dem Markt zu entziehen« wird auch im Gemeinderat und der Stadtverwaltung verstanden und die Gründung von Syndikatsprojekten unterstützt.

Hinzu kam in den letzten Monaten die Diskussion darum, ob und wie Tübingen noch wachsen, wie viel Fläche noch bebaut werden soll, verbunden mit der Frage, wie ein gutes Leben für alle aussehen kann. Großen Einfluss hat außerdem das zunehmende Interesse älterer Menschen an neuen, gemeinschaftlichen Wohnformen.

Auf der Suche nach Beispielen, wie Wohnen dauerhaft dem Markt entzogen und bezahlbare Mieten garantiert werden können, wie mehr Diversität der Bewohner*innen realisiert werden kann, als in den bestehenden Wohnprojekten, und wie zudem höhere ökologische Standards erfüllt werden können, ohne dass darunter die Wohnqualität leidet, stießen wir auf neue Wohnbaugenossenschaften in Zürich.

Dort haben einige neue Genossenschaften die Tradition der Genossenschaftsbewegung aufgegriffen und innovativ fortgeführt. Ideen und Konzepte aus Zeiten der Jugendunruhen und Hausbesetzungen Anfang der 80er Jahre wurden dabei ebenso mitgenommen wie aktuelle Debatten um Postwachstum, Commons und die 2.000-Watt-Gesellschaft. Ausgangspunkt war dabei auch das Buch »bolo‘bolo«, in dem der Autor p.m. 1983 eine konkrete gesellschaftliche Utopie entwarf, aus der sich Elemente im Neustart-Konzept finden. Auf der englischen Homepage http://o500.org/ ist das übergreifende gesellschaftliche Modell ausführlich erläutert.

Zwischen Bern und Basel existieren inzwischen mehrere Projekte, die die Idee der zusammen wirtschaftenden, genossenschaftlich organisierten Nachbarschaft in unterschiedlichen Formen und verschiedenem Umfang umsetzen. Am bekanntesten sind die beiden Züricher Projekte Kalkbreite (250 Bewohner*innen) und Hunziker Areal/Mehr als Wohnen (1.200 Bewohner*innen und 150 Arbeitsplätze).

In Tübingen möchten wir nach dem Modell Neustart Schweiz ein großes Projekt für eine sozial gemischte Bewohner*innenschaft bauen: 500 Personen finanzieren und nutzen gemeinsam bezahlbaren Wohnraum in unterschiedlichen Formen wie Einzelappartements, Familienwohnungen, WGs, Clusterwohnungen, etc. Mit lebenslangem Wohnrecht geht dabei die Bereitschaft einher, je nach Lebensphase und Bedarf im Projekt umzuziehen. Dafür gibt es statt großer Privatwohnungen viele gemeinsame Flächen sowie eine sozial-ökologische Infrastruktur für alle, auch für die umgebende Nachbarschaft: Gäste- und Jokerzimmer, Werkstätten, Geräte- und Materiallager, Bar/Kneipe, Bewegungsraum, Anschluss an eine solidarische Landwirtschaft … – auch Sorge- und Pflegedienstleistungen sind angeschlossen.

Unsere Arbeitsstruktur sind ein offenes Plenum sowie feste Arbeitskreise. Darin engagieren sich etwa 50 Personen kontinuierlich. Dazu gibt es ein weiteres Umfeld von Personen, die sich phasenweise einbringen.

Nach verschiedenen Veranstaltungen, in denen wir das Neustart-Konzept als Weiterentwicklung des Tübinger Modells stadtweit bekannt gemacht haben, befinden wir uns momentan im Gründungsprozess der Genossenschaft sowie dem Aufbau der notwendigen Strukturen. Denn mit dem Areal Marienburgerstraße in der Tübinger Südstadt gibt es eine innerstädtische Fläche, die in den nächsten zwei Jahren entwickelt werden soll und für unser Vorhaben geeignet ist. Daher führen wir diesbezüglich konkrete Gespräche mit Gemeinderat und Stadtgesellschaft sowie der Stadtverwaltung. Um für 500 Personen bauen zu können, müsste der Gemeinderat die bisherige Praxis der Optionsvergabe nach »Kleinteiligkeit« an viele unterschiedliche Bauträger ändern. Da wir in den unterschiedlichsten Gesprächen immer wieder merken, wie überzeugend das Neustart-Konzept ist, sind wir hoffnungsvoll, dass der Gemeinderat unsere Bewerbung als große Genossenschaft zulassen wird.

Links

neustart-tuebingen.mtmedia.org
neustartschweiz.ch

Fotos: Neustart Tübingen

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