Nach eigenen Regeln spielen

Am Rande der Zivilisation, im ostwestfälischen Bielefeld, vereinen sich Vergangenheit und Gegenwart einer Fußballkultur, die mehr als alles andere die Leidenschaft für das Spiel in sich trägt. Seit fast 50 Jahren wird in der Wilden Liga Bielefeld Fußball gespielt, gekämpft, geliebt und gefeiert. Das weiß unser Autor aus eigener Erfahrung.

Thiemo Kirmse, Münster

Keine Frage, die Stadt, die es eigentlich nicht gibt und über die man sich so gerne lustig macht, hat etwas Provinzielles. Ostwestfalen, das sich schon mit seinem Namen einer genauen geografischen Zuordnung entzieht, ist Provinz und Bielefeld ihr Zentrum. Der Spaß auf eigene Kosten wird dabei geteilt, denn Selbst­ironie gehört zum lokalen Humor, den es dort – dem Hörensagen nach – auch nicht gibt. Bekanntermaßen gehen Ostwestfalen zum Lachen in den Keller.

Mit umso größerer Ernsthaftigkeit wird dort seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten selbstorganisiert eine eigene Fußballliga, mit fast allem was dazugehört, betrieben. Die im Jahr 1976 gegründete »Wilde Liga Bielefeld« ist die älteste selbstorganisierte Fußballliga in Deutschland. Ob es die vermeintliche Provinzialität, die ostwestfälische Sturköpfigkeit oder reiner Zufall ist, warum sich ausgerechnet hier die älteste, und zeitweise vermutlich auch größte, Liga im Freizeitfußball herausgebildet hat, muss nicht ergründet werden. Fakt ist, die Wilde Liga Bielefeld versprüht ein besonders Flair.

Der Begriff der Ernsthaftigkeit vermittelt dabei ein falsches Bild, denn im persönlichen Erleben ist das genaue Gegenteil der Fall. Es geht entspannt zu. Es ist gerade die Ernsthaftigkeit aus dem Vereinssport, die fehlt. Nun kann man sicherlich auch den Fußball im Verein mit Leidenschaft betreiben und im Kreis von guten Freund*innen kicken, es bleiben aber die Vorgaben eines offiziellen Regelwerks, das einengend und bevormundend wirkt; mehr als das, sind es aber die Strukturen und das, was sich mit einer gewissen Unschärfe als »bürgerlich« bezeichnen lässt. Im Vereinssport schwingt schnell auch der Wettbewerb mit. Schon in der Jugend wird auf Leistung gesetzt, und natürlich lässt auch das Geld nicht lange auf sich warten. Das verändert das Spiel. Selbstorganisation heißt auch, nach eigenen Regeln zu spielen. Und das fühlt sich viel freier an.

Eine Zeitreise

Irgendwann Mitte der 1990er Jahre habe ich begonnen, in der Wilden Liga in Bielefeld Fußball zu spielen. Zuerst für die »Opel-Gang«. Das waren vor allem Jungs aus dem Umfeld meiner damaligen Schule. Zwei Jahrgänge drunter, aber man kannte sich natürlich und hatte Kontakt. Eine feucht-fröhliche Truppe mit der ganzen Bandbreite fußballerischer Qualitäten. Nach Auflösung der Opel-Gang folgte für mich, nach kurzer Pause, ein einjähriges Engagement bei »Yokohama Sadomaso« in der »Wurst-Liga«. Der Fußball war schon hochklassiger in dieser ersten von seinerzeit insgesamt drei Ligen. Wir spielten eine super Saison und wurden Vizemeister. Als letzte Station folgte für viele Jahre die neugegründete »Matthäus-Passion«. Das Joint-Venture aus der Opel-Gang und aus meinem Freundeskreis musste, wie alle neuen Mannschaften, im »Souterrain« – der untersten Liga – starten. Zwischen Souterrain und Wurst-Liga lag der »Fahrstuhl«. Den Aufstieg schafften wir als Meister der dritten Liga nach wenigen Jahren.

Allein die Namen der Mannschaften in der Wilden Liga sind eine Geschichte für sich. Der Fantasie und Kreativität waren und sind hier keine Grenzen gesetzt. Oft ist ein Augenzwinkern dabei, manchmal eine Hommage an große Fußballer oder Vereine, ab und an ein lokaler Bezug und immer wieder wird auch der Leidenschaft anschaulich Ausdruck gegeben. Namen wie »Partisan Ekstase« oder »Rapid Orgasmus« sorgten dabei anhaltend auch außerhalb der Liga für Erheiterung und Gesprächsstoff. Die Namen sind so bunt und vielfältig wie die Gruppen selbst, die Sonntag für Sonntag den heiligen Rasen an der Bielefelder Radrennbahn betreten.

Die riesige Rasenfläche im Osten der Stadtmitte bietet bis zu fünf Fußballplätze, von denen in der Saison 2023/24 nur drei genutzt werden. Das ist genügend für die mittlerweile nur noch zehn Mannschaften, die in der Wilden Liga aktiv sind. Zu Hochzeiten spielten 45 Mannschaften – vielleicht auch ein oder zwei mehr – in drei Ligen. Trotz drei gestaffelter Startzeiten an den Spieltagen und der großen Fläche an der Radrennbahn mussten sich einzelne Mannschaften eigene Heimplätze organisieren. Mit Yokohama spielten wir »zuhause« immer auf einem Ascheplatz – versteckt am Rande des Teutoburger Waldes, aber gar nicht so weit entfernt von der großen Bühne an der Radrennbahn.

Der Fußball in der Wilden Liga unterscheidet sich im Spiel im Grunde kaum von der offiziellen Version unter der Ägide des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Es geht genauso um Punkte und ums Gewinnen. Es gibt einen Ligabetrieb und einen Pokalwettbewerb. Es wird teilweise hart gespielt und Verletzungen bleiben nicht aus. Und doch ist es oft wieder anders. Man kommuniziert ein bisschen mehr und mahnt zur Zurückhaltung. Es gibt auch weniger Streit. Im Zweifel kann man alles verhandeln. Genau das besagt auch §13 des Regelwerks, welches sich die Liga gegeben hat: »Grundsätzlich ist zwischen zwei Teams alles verhandelbar.« Dieser Paragraf hat Praxisrelevanz und würde sicherlich auch gelebt, wenn es ihn nicht gäbe.

Für Außenstehende mag das befremdlich ausschauen. Vor allem weil das Spiel ohne Schiedsrichter auskommt. Auch das ist entspannter und einfacher als im Ligabetrieb beim DFB. Jede*r, der hobbymäßig kickt, kommt ohne Schiedsrichter*innen aus und weiß, dass das funktioniert. In der Wilden Liga ist es genauso. Das meiste ist ohnehin klar oder aber schnell geklärt. Einwurf, Frei­stoß oder Abseits: Das geht ganz ohne Diskussion.

Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Der Elfmeter kann auch eine klare Sache sein und, ohne wenn und aber, schnell zur Entscheidung und Ausführung kommen. Je nach Bedeutung des Spiels und Spielstand kann es aber auch anders sein. So geschehen beim größten sportlichen Erfolg der Opel-Gang. Ein wunderbarer Sommertag. Pokalhalbfinale gegen »Dieter Hoeneß Hirnverband«. Ein schwerer Gegner, ein Prestigeduell und die Aussicht auf das Finale. Viel steht auf dem Spiel. Es steht – so die Erinnerung nach langer Zeit – noch immer 0:0, als die Diskussion um einen vermeintlichen Strafstoß entsteht. Es geht zu Lasten von Dieter Hoeneß und die Jungs aus meinem Team argumentieren lange, laut und nachhaltig für den Schuss aus elf Metern. Ein unwürdiges Szenario, denn ich bin mir fast sicher, es war gar keiner. Irgendwann gibt Dieter Hoeneß – vermutlich entnervt – nach und gewährt den Elfmeter. Der Fußballgott hat an diesem Tage ein Auge auf uns. Wir verschießen den Strafstoß und verlieren am Ende das Spiel. Es geht gerecht zu am Ende dieses Tages, denn beides ist verdient und so die Erinnerung viel schöner, als wäre es andersherum gekommen.

Zurück in die Zukunft

20 Jahre nach meinem Ausscheiden aus der Wilden Liga stehe ich wieder mit geschnürten Schuhen auf dem Platz. Ich gebe ein Gastspiel für »Laufen soll’n die anderen«. Der Tag ist bewölkt und lässt die Sonne kaum zum Vorschein kommen. Wie abgesprochen, bin ich um kurz vor 13 Uhr auf dem Platz. Und damit der erste. Es ist noch nicht viel los auf der Radrennbahn und die weite Fläche noch sehr leer. Das ist auch nicht so ganz untypisch für die Wilde Liga. Ein paar kleine Trüppchen sind schon da. Ich frage mich also durch. Das war vor 20 Jahren auch schon so. Von welcher Mannschaft seid ihr? Ich treffe zuerst auf unseren Gegner. Der »TSG Nienüchtern« sieht alles andere als unsportlich aus. Die Jungs sind schon früh versammelt und im Schnitt Anfang zwanzig. »Das kann ja was werden«, denke ich.

Dann treffe ich Morten. Er ist auch für ein Gastspiel gekommen. Bei welcher Mannschaft? Weiß er nicht so genau. Laufen soll’n die anderen? »Ja, das kann sein«, meint er. Er hat den Kontakt durch einen Freund. Kaum habe ich Morten gefunden, entdecken wir die ersten Mitstreiter von LsdA – das Akronym der Mannschaft, die schon seit über 20 Jahren in der Wilden Liga kickt. Klar kenne ich LsdA noch von früher. Mit Martino, der als Mannschaftskapitän das Organisatorische in die Hand nimmt, hatte ich kurz vorher Kontakt. Martino sagt, dass sie damals ihr allererstes Spiel in der Wilden Liga gegen uns – die Matthäus-Passion – gemacht haben. »5:4 gewonnen«, ergänzt er.

Heute dann also gegen den »TSG Nienüchtern«, eine in jeder Beziehung junge Mannschaft in ihrer ersten Saison. Bei LsdA ist das anders. Viel Erfahrung steht da auf dem Platz. Und die gewinnt am Ende das Spiel auch recht deutlich. Mit 6:2 endet der Vergleich – ein nicht ganz unübliches Ergebnis für die Spiele in der Wilden Liga. Ich stehe die meiste Zeit auf dem Platz. Also tatsächlich laufe ich auch recht viel und trage – im Rahmen der Möglichkeiten – meinen Teil bei. Es hat Spaß gemacht, einmal das Trikot von LsdA zu tragen und mitzukicken. Nach dem Spiel gibt es erstmal in gemütlicher Runde ein Bier – mit oder ohne Prozente, beides ist zu haben. Von Nienüchtern ist auch noch jemand dabei. Ehrensache bei dem Namen. Man lässt das Spiel Revue passieren. Es wird gefachsimpelt, gescherzt und gelacht. Entspannt ist auch die dritte Halbzeit.

Früher war mehr los auf der Radrennbahn, dabei hat sich so viel gar nicht geändert. Das Spiel ist immer noch dasselbe, und obwohl ich eigentlich die Schuhe schon an den Nagel gehängt hatte, ahne ich, dass das nicht das letzte Mal war, dass ich hier auf Tor- und Punktejagd gegangen bin. Ich muss vermutlich doch vom Platz getragen werden, bevor ich ihn verlasse. Was ich aber auch weiß, ist, wie in der Zukunft – in »meiner« befreiten Gesellschaft – der Fußball ausschauen wird, denn es gibt ihn schon lange und bis zum heutigen Tag: tief in der ostwestfälischen Provinz in der Wilden Liga in Bielefeld.

Link: http://wlb.bplaced.net

Titelbild: Mannschaftsfoto von »Laufen soll’n die anderen« – das Team kickt in der Wilden Liga Bielefeld. Foto: Sven Nieder

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