Eine »Anmeldung für Alle« in Berlin

Vielen Menschen dürfte nicht bewusst sein, welche Konsequenzen eine fehlende Anmeldung nach sich zieht. Erst diese offizielle Registrierung bei der zuständigen kommunalen Behörde ermöglicht den Zugang zu Bildungs-, Sozial-, und Gesundheitsdiensten, zum Arbeitsmarkt und vor allem zu Wohnraum. Mittlerweile haben die Spekulation mit Mieten, die Inflation und Gentrifizierung ganzer Stadtteile ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht. Das betrifft nicht nur Menschen mit deutschem Pass. Besonders schwierig ist die Situation für Migrant*innen und schutzsuchende Menschen ohne Papiere. Neben den oftmals traumatischen Erfahrungen einer Flucht oder den belastenden Umständen, die zum Verlassen der Heimat führen, finden sich Migrant*innen hier in einer nachteiligen Ausgangsposition wieder: eine schwer durchschaubare Bürokratie, Sprachbarrieren, systematische Ausgrenzung und Diskriminierung. Mit der Kampagne »Anmeldung für Alle« ist die Initiative »Ciudad Migrante« in Berlin angetreten, um gegen die bürokratischen Hindernisse anzukämpfen, einen strukturellen Wandel herbeizuführen und die Lebensrealitäten von Migrant*innen sichtbar zu machen. Hans Wieser, Redaktion Klagenfurt, sprach darüber mit Bianca Alves de Andrade und Jasón Bustos.

CONTRASTE: Ciudad Migrante ist das Ergebnis eines kollektiven Prozesses, wie kam es dazu? Welche Herausforderungen mussten gemeistert werden? Wie können Ratsuchende unterstützt werden?

Jasón: Am Anfang waren unsere Treffen offen für Migranten*innen mit Problemen auf dem Wohnungsmarkt. Es war ein offener Workshop, in dem wir mit verschiedenen Ansätzen experimentierten. Unsere größte Schwierigkeit bestand darin, Formen zu finden, wie wir politisches Handeln aus der Perspektive der Migration betrachten können. Die meisten Migranten*innen sind aufgrund ihrer prekären Lebensumstände entpolitisiert. Deshalb konzentrierten wir uns darauf, die Bedürfnisse derer zu politisieren, die zu uns kamen. Obwohl wir Instrumente wie ein Handbuch mit Ratschlägen zum Thema Wohnen entwickelt haben, ist es eine endlose Aufgabe, den Menschen individuell zu helfen. Jetzt konzentrieren wir uns auf systemische Lösungen.

Leistbarer und würdevoller Wohnraum ist kaum zu finden, mit welchen zusätzlichen Hindernissen ist die migrantische Gemeinschaft konfrontiert?

Bianca: Das Anmeldeverfahren ist untrennbar mit der Wohnungskrise verbunden. Diejenigen, die keinen Zugang zu einer Wohnung mit Anmeldung haben, sind in der Regel von vielen Grundrechten und wichtigen Dienstleistungen ausgeschlossen, die für ein normales Leben in Berlin notwendig sind. Ohne Anmeldung gibt es weder eine Steuer-ID noch ein Bankkonto oder eine Krankenversicherung. Diese sind aber oft notwendig, um eine formelle Beschäftigung zu bekommen. Und ohne Beschäftigung ist es wiederum schwierig, überhaupt eine Wohnung zu finden, was wir den »Teufelskreis der Anmeldung« nennen. Diese Prozesse sind auch stark mit rassistischer Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt verbunden. Die Unkenntnis von Migrant*innen über die Preisgestaltung und ihre gesetzlichen Rechte macht sie oft anfällig für Betrug. Es kommt auch vor, dass Vermieter den Zugang zur Anmeldung ausnutzen und ihre Mieter*innen sexuell belästigen. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass alle diese Schwierigkeiten auch negative psychologische Folgen für Migrant*innen haben können, insbesondere für diejenigen, die gerade in der Stadt angekommen sind und noch über kein Unterstützungsnetzwerk verfügen.

Welche Schwerpunkte verfolgt die Kampagne »Anmeldung für Alle«? Welche politischen Forderungen und Vorschläge wurden erarbeitet?

Bianca: Wir haben drei Forderungen: universale Anmeldung, Entkriminalisierung der Solidarität und eine Lösung der Wohnungskrise. Zunächst einmal setzen wir uns für eine universelle Lösung für das Problem der Anmeldung ein. Wir wollen sie nicht abschaffen, sondern erkennen an, wie wichtig sie für das Funktionieren der Stadt und die Zuteilung ihrer Ressourcen ist. Mit universell meinen wir eine vorübergehende Lösung für diejenigen, die keine Wohnung mit Anmeldung haben, damit sie nicht von Rechten und Versorgung ausgeschlossen sind. Etwas Ähnliches wird bereits jetzt für diejenigen getan, die keinen festen Wohnsitz haben. Sie können sich vorübergehend mit einer Adresse namens »ofW« (ohne festen Wohnsitz) registrieren lassen und ihre Postadresse bei öffentlichen Einrichtungen wie dem Jobcenter angeben, wo sie Briefe empfangen können. Wir fordern daher die Schaffung einer neuen städtischen Einrichtung speziell für diesen Zweck, in der es möglich wäre, sich vorläufig zu registrieren. Ebenso fordern wir die Entkriminalisierung von solidarischen Aktionen aus der Zivilbevölkerung wie der Scheinanmeldung. Eine weitere Option ist die Abschaffung der Wohnungsgeberbestätigung, die häufig von Vermieter*innen genutzt wird, um Kontrolle über ihre Mieter*innen auszuüben. Wir finden, dass sie die Anmeldung für Menschen in prekären Verhältnissen übermäßig verkompliziert.

Eure Aktivitäten finden große Zustimmung?

Bianca: Die Kampagne »Anmeldung für Alle« (AfA) haben wir im Dezember letzten Jahres gestartet, seit damals wurde darüber in mehreren Zeitungen berichtet. Im April wurden wir eingeladen, auf dem Parteitag der Partei Die Linke zu sprechen, die unsere Forderungen in ihren Leitantrag aufnahm. Außerdem freuen wir uns, dass sie bei einer großen Anzahl von Organisationen Anklang gefunden hat, die sich ihrerseits entschlossen haben, sich anzuschließen. Auch für die Initiative war der Juni ein arbeitsreicher Monat. Wir haben an der Mietenwahnsinn-Demo teilgenommen und Anfang des Monats unsere Forderungen auf die Straße gebracht. Kurz darauf veranstalteten wir Workshops im Forum Recht Auf Stadt, in denen wir unsere Arbeit diskutieren und präsentieren konnten.

Ciudad Migrante hat 2023 das Handbuch »Guia Migrante« erarbeitet, welche Kernthemen werden darin erörtert?

Jasón: Das Handbuch bietet Ratschläge zu einer Vielzahl von Themen. Von rechtlichen Hinweisen zu Mieter*innenrechten über Tipps und Tricks bei der Wohnungssuche bis hin zum Umgang mit bestimmten Machtverhältnissen zwischen Vermieter*innen und Mieter*innen. Ein spezieller Abschnitt des Handbuchs befasst sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt und wie man in Situationen häuslicher Gewalt Hilfe findet. Es kommt häufig vor, dass rechtliche Abhängigkeiten entstehen, um einen legalen Status in Deutschland zu erlangen. Häusliche Gewalt wird noch komplizierter, wenn die betroffene Person rechtlich vom Angreifer abhängig ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Berichterstattung über häusliche Gewalt in Deutschland weder »gender nonconforming«-Menschen noch diejenigen erfasst, die die Gewalt nicht zur Anzeige bringen – einer der Haupteffekte von häuslicher Gewalt ist auch das Schweigen. In Deutschland werden nur 13 Prozent der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt in Paarbeziehungen gemeldet. Wir versuchen nicht nur, in unserem Handbuch Informationen zur Verbesserung dieser Situation zu geben, sondern engagieren uns auch kontinuierlich mit Workshops und Veranstaltungen zu diesem Thema. Ohne zu viel zu verraten, ist dies ein wichtiges Thema für uns, da viele unserer Mitglieder der Queer Community angehören und ihr Bestreben, ihre Erlebnisse zu politisieren, den politischen Horizont von Ciudad Migrante entscheidend geprägt hat. Auf der anderen Seite war die kritische Kartographie entscheidend für die Entwicklung des Konzepts eines Berlins, das im Wesentlichen eine Stadt von Migrant*innen ist. Was jedoch das Handbuch betrifft, liegt der Schwerpunkt auf praktischen Ratschlägen und der klaren Formulierung unserer politischen Perspektive.

Wie entwickelt sich die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen?

Bianca: Ciudad Migrante kooperiert mit vielen anderen Organisationen, vor allem im Rahmen der AfA-Kampagne. Die kollektive Initiative, die zunächst in Workshops unter der Leitung von Ciudad Migrante entwickelt wurde, wurde durch eine Partnerschaft mit Right2theCity zum Start der Kampagne unterstützt. Derzeit gibt es mehrere aktive Gruppen, die sich für die Kampagne einsetzen und Strategien entwickeln, wie R2C, Oficina Precaria Berlin, Berlino Possibile, Asamblea Migrante, Unidas por la Paz, Schlafplatzorga und Bloque Latinoamericano Berlin. Wir treffen uns ständig, um durch transparente Kommunikationskanäle den Rahmen und die strategischen Ziele der Kampagne gemeinsam zu formulieren. Natürlich begrüßen wir auch die Teilnahme jeder Organisation, die mit unserer Mission übereinstimmt und sich für unsere Sache einsetzt.

Wo könnte mensch Aktivist*innen von Ciudad Migrante kennenlernen, sich einbringen und die Kampagne unterstützen?

Bianca: Ciudad Migrante trifft sich alle zwei Wochen in der Casa Popular Mariele Franco, Berlin-Kreuz­berg. Über unsere sozialen Netzwerke geben wir öffentlich bekannt, welche Treffen für diejenigen offen sind, die gerne teilnehmen und mehr über unsere Arbeit erfahren möchten.

Kontakt zu Ciudad Migrante und mehr Infos:
ciudadmigrante@riseup.net
ciudad.migrante (Instagram)

Weitere Links:
http://bloquelatinoamericanoberlin.org
https://www.sans-papiers.ch/de

Titelbild: Die Kampagne »Anmeldung für alle« auf der Mietenwahnsinn-Demo am 1. Juni in Berlin. Foto: Kevan/Ciudad Migrante

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